Die Jahre. Virginia Woolf
grüne Flamme, leichtfüßig, nichtsnutzig.
»Was glaubst du, war ich ein schrecklicher Narr?« fragte er plötzlich. »Mit dieser Krankheit jetzt und dem, was Edward und Martin kosten, – Papa muß es doch ein wenig schwerfallen.« Er runzelte die Stirn auf die Art, die sie veranlaßt hatte, sich zu sagen, daß er sein knabenhaftes Aussehn verliere.
»Selbstverständlich nicht«, sagte sie mit Nachdruck. Selbstverständlich wäre es widersinnig gewesen, wenn er Kaufmann geworden wäre; bei seiner Leidenschaft für die Juristerei!
»Du wirst noch Lordkanzler werden eines schönen Tags«, sagte sie. »Ich bin überzeugt davon«. Er schüttelte lächelnd den Kopf.
»Ganz überzeugt«, sagte sie und sah ihn an, wie sie ihn angesehn hatte, wenn er zu den Ferien heimgekommen war und Edward alle Preise gewonnen hatte und er stumm dasaß – sie konnte ihn jetzt noch vor sich sehn – und sein Essen herunterschlang und niemand ihn viel beachtete. Aber noch während sie ihn ansah, überkamen sie Zweifel. Lordkanzler hatte sie gesagt. Hätte sie nicht Lord-Oberrichter sagen sollen? Sie konnte die beiden nie unterscheiden; und das war auch ein Grund, daß er nicht über Evans contra Carter mit ihr sprechen wollte.
Sie hinwieder erzählte ihm nie von den Levys, oder nur witzelnd. Das war das Schlimmste am Heranwachsen, dachte sie; sie konnten vieles nicht mehr miteinander teilen, so wie früher. Wenn sie zusammenkamen, hatten sie nie Zeit zu reden, wie sie es gewohnt gewesen waren, – über Dinge im allgemeinen; sie sprachen stets von Tatsachen – unbedeutenden Tatsachen. Sie schürte das Feuer. Plötzlich schallte ein Geschmetter durch das Zimmer. Es war Crosby, die in der Halle das Gong bearbeitete. Sie war wie eine Wilde, die an einem ehernen Opfer Rache nahm. Wellen rohen Schalls tönten durch den Raum. »Himmel, es ist Zeit zum Umkleiden!« sagte Morris. Er stand auf und streckte sich. Er hob die Arme und hielt sie einen Augenblick über seinem Kopf. So wird er aussehn, wenn er einmal Familienvater ist, dachte Eleanor. Er ließ die Arme sinken und ging aus dem Zimmer. Vor sich hinbrütend blieb sie einen Augenblick sitzen; dann raffte sie sich auf. Was darf ich nicht vergessen? fragte sie sich. An Edward zu schreiben, besann sie sich, während sie zum Schreibtisch ihrer Mutter hinüberging. Er wird jetzt bald mein Schreibtisch sein, dachte sie und blickte dabei auf den Silberleuchter, die Miniatur ihres Großvaters, die Lieferantenbücher – auf das eine war eine goldene Kuh geprägt – und das gefleckte Walroß mit einem Bürstchen im Rücken, das Martin der Mutter zum letzten Geburtstag geschenkt hatte.
Crosby hielt die Tür zum Eßzimmer offen und wartete, daß sie alle herunterkämen. Das Silber lohnte das Putzen, dachte sie. Messer und Gabeln blitzten nur so rings auf dem Tisch. Der ganze Raum mit seinen geschnitzten Stühlen, den Ölgemälden, den zwei Dolchen über dem Kaminsims und der stattlichen Anrichte – allen diesen soliden Gegenständen, die Crosby täglich abstaubte und glänzend rieb, – kam abends am besten zur Geltung. Bei Tag nach Braten riechend, von Sergevorhängen verdunkelt, sah er, erleuchtet, halb durchsichtig aus am Abend. Und sie waren eine stattliche Familie, dachte sie, als sie hintereinander hereinkamen – die jungen Damen in ihren hübschen Kleidern von blau und weiß geblümtem Musselin; die Herren, so gepflegt, in ihren Smokingjacken. Sie rückte dem Oberst den Stuhl zurecht. Er sah abends immer am besten aus; er aß mit Genuß; und aus irgendeinem Grund war seine Verdüsterung geschwunden. Er war in seiner jovialen Laune. Die Stimmung seiner Kinder hob sich, als sie es bemerkten.
»Das ist ein hübsches Kleid, das du da trägst«, sagte er zu Delia, während sie sich setzten.
»Dieses alte?« sagte sie, über den blauen Musselin streichend.
Ihr Vater hatte etwas Opulentes, wenn er guter Laune war, etwas Ungezwungenes und Bezauberndes, das sie besonders gern hatte. Die Leute sagten immer, daß sie ihm gleiche; manchmal freute sie sich darüber – heute abend zum Beispiel. Er sah so rosig und sauber und heiter aus in seiner Smokingjacke. Sie wurden wieder zu Kindern, wenn er in dieser Stimmung war, und fühlten sich angespornt, Familienwitze hervorzuholen, über die sie alle ohne besonderen Grund lachten.
»Eleanor ist brütig«, sagte ihr Vater, den andern zublinzelnd. »Es ist ihr Mietertag.«
Alle lachten; Eleanor hatte gemeint, er spreche von Rover, dem Hund mit dem goldroten Fell, während er tatsächlich von den Haaren der Mrs. Egerton gesprochen hatte. Crosby, die die Suppe reichte, verzog das Gesicht, weil auch sie das Lachen ankam. Der Oberst brachte manchmal Crosby so sehr zum Lachen, daß sie sich abwenden und an der Anrichte zu schaffen machen mußte.
»Oh, Mrs. Egerton ... « sagte Eleanor und begann ihre Suppe zu löffeln.
»Ja, Mrs. Egerton«, sagte ihr Vater und fuhr fort, von Mrs. Egerton zu erzählen, »deren Goldhaar, wie die Stimme der Verleumdung behauptete, nicht ganz ihr eigenes war.«
Delia hörte gern zu, wenn ihr Vater Geschichten aus Indien erzählte. Sie waren knapp und dabei doch romantisch. Sie vermittelten eine Atmosphäre von Offizieren, die in Messejacken miteinander dinierten, an einem sehr heißen Abend, mit einem riesigen silbernen Preispokal in der Mitte der Tafel.
Er pflegte immer so zu sein, als wir klein waren, dachte sie. Da war er immer über das Freudenfeuer an ihrem Geburtstag gesprungen, so erinnerte sie sich. Sie sah ihm zu, wie er geschickt mit der Linken Koteletten auf die Teller schubste. Sie bewunderte seine Entschlossenheit, seinen gesunden Verstand. Während er die Kotelette austeilte, fuhr er fort:
»Von der schönen Mrs. Egerton zu reden, das erinnert mich – hab’ ich euch je die Geschichte von dem alten Badger Parkes erzählt und von –«
»Miss –« sagte Crosby im Flüsterton an der halb geöffneten Tür hinter Eleanors Rücken. Sie flüsterte Eleanor heimlich ein paar Worte zu.
»Ich komme schon«, sagte Eleanor und stand auf.
»Was gibt’s, was gibt’s?« fragte der Oberst, sich mitten im Satz unterbrechend. Eleanor verließ das Zimmer.
»Die Pflegerin hat ihr etwas sagen lassen«, antwortete Milly.
Der Oberst, der grade sich selbst mit einem Kotelett bedient hatte, behielt Messer und Gabel in den Händen. Sie alle saßen mit Messer und Gabel in den Händen da. Niemand wollte weiteressen.
»Lassen wir nicht unser Essen kalt werden«, sagte der Oberst und machte sich über sein Kotelett her. Er hatte seine gute Laune verloren. Morris nahm sich zögernd von den Kartoffeln. Dann erschien Crosby wieder. Sie stand in der Tür, und ihre blaßblauen Augen sahen sehr vorgewölbt aus.
»Was ist los, Crosby? Was gibt’s?« fragte der Oberst.
»Die Missis, Sir. Es geht ihr schlechter, glaub’ ich, Sir«, sagte sie in einem seltsam wimmernden Ton. Alle standen auf.
»Wartet lieber! Ich werd’ gehn und nachsehn«, sagte Morris. Alle folgten sie ihm in die Halle hinaus. Der Oberst hielt noch immer seine Serviette in der Hand. Morris lief die Treppe hinauf; fast sogleich kam er wieder herunter.
»Mama hat einen Ohnmachtsanfall«, sagte et zu seinem Vater. »Ich geh’ und hole Dr. Prentice.« Er griff nach Hut und Mantel und eilte die Türstufen hinunter. Sie hörten ihn nach einem Mietwagen pfeifen, während sie ungewiß in der Halle standen.
»Geht und eßt auf, ihr Mädels!« sagte der Oberst gebieterisch. Er selbst aber schritt im Wohnzimmer auf und ab, die Serviette in der Hand.
»Es ist so weit«, sagte sich Delia; »es ist so weit!« Ein außerordentliches Gefühl von Erleichterung und Aufregung bemächtigte sich ihrer. Ihr Vater wanderte in den beiden Wohnzimmern hin und her; sie ging zu ihm hinein; aber sie vermied ihn. Sie waren einander zu ähnlich; jedes wußte, was das andre fühlte. Sie stand am Fenster und sah auf die Straße hinaus. Ein Regenschauer war gefallen. Die Straße war naß; die Dächer glänzten. Dunkle Wolken zogen über den Himmel; im Licht der Laternen schwankten die Äste auf und nieder. Etwas in ihr schwankte auch auf und nieder. Etwas Unbekanntes schien sich zu nähern. Dann ließ ein schluckender Laut hinter ihr sie sich umwenden. Es war Milly. Sie stand beim Kamin, unter dem Bild der weißgekleideten jungen Frau mit dem Blumenkorb, und Tränen liefen ihr langsam die Wangen herab. Delia machte eine Bewegung zu ihr hin; sie müßte zu ihr hingehn und ihr