Lore kommt für alles auf- Roman einer Tanzkapelle. Axel Rudolph

Lore kommt für alles auf- Roman einer Tanzkapelle - Axel Rudolph


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machen.‘ Hans Böge klammert sich, während er seinen Platz einnimmt, krampfhaft an diesen Gedanken, obwohl es ihm unmöglich erscheint, daß Lore Glant in diesem Falle etwas ausrichten kann. Noch sitzt Yvonne Kerkh steif und mit verkniffenem Gesicht da unten auf ihrem Platz. Noch hat die Musik nicht begonnen. Noch suchen da unten die Nachzügler geräuschvoll ihre Plätze. Da — Hans Böges Augen werden ganz rund vor Spannung — einer der Platzanweiser ist an Madame Kerkh herangetreten, flüstert ihr etwas zu. Madame Kerkh scheint erst erstaunt, dann beruhigt. Sie wechselt ein paar Worte mit dem neben ihr sitzenden Herrn, erhebt sich — wahrhaftig, sie geht! Alle guten Geister seien gepriesen, sie geht wirklich! Der dicke Herr neben ihr ebenfalls!

      Musik! Hans Böges Bogen streicht weich und zärtlich über die Saiten. Silvester Begas braucht nicht mehr zu ihm hinzusehen. Der Bann ist gebrochen. Hans Böge spielt hingebend wie sonst. Nur eine leise, leise Frage ist in ihm zurückgeblieben, eine Frage, die seine Augen öfter als sonst abwärts in den Zuhörerraum gleiten läßt. Ob sie wiederkommen wird?

      Schluß. Beifallsstürme. Blumen. Verneigungen. Die Zuhörer jubeln und verlangen stürmisch eine Zugabe. Silvester Begas muß mit seinen Leuten noch einmal herein. Zwischen Bühne und Kulisse steckt ein Angestellter des Konzerthauses Hans Böge einen Zettel zu. Während drinnen der Beifall nach Silvester Begas ruft, liest Hans hastig die hingekritzelten Bleistiftzeilen. Sein Kapellmeister schaut ihm dabei lächelnd über die Schulter.

      „Ich beschäftige Madame, damit sie Dich nicht am Bahnhof erwischt. Sage Harry, daß ich morgen nachkomme, falls ich selber den Zug nicht mehr erreichen kann.

      Lore.“

      Strahlend nimmt Hans Böge seinen Platz ein, faßt mit kosender Hand sein Instrument. Silvester Begas, vom Beifall umbrandet, muß sich immer wieder verneigen. Dann ein Umwenden, ein leise hingeworfenes Wort an die Getreuen — die Geigen setzen ein, nach dem klassischen Programm ein schlichtes deutsches Volkslied. Die Geigen beherrschen Bühne und Saal. Die Kapelle Begas aber summt unhörbar zu dem bekannten Volkslied vor sich hin einen etwas variierten Text, den jeder von ihnen längst kennt:

      „Am Brunnen sitzt die Lore ...“

      Es ist keine Verhöhnung des schönen Liedes, denn die Geigen klingen nur noch zärtlicher und sehnsüchtiger dabei, und zart und sehnsuchtsvoll sind auch die Gedanken, die sie begleiten.

      „Unsere Lore!“

      *

      Vier Minuten vor Abgang. Die Musiker spähen, aufgeregt sich um die Abteilfenster drängend, den Bahnsteig entlang. Ob sie noch kommt? Die schwere D-Zug-Lokomotive schnaubt und prustet schon. Umarmungen, Küsse, lustige Abschiedsworte ringsum. „Bier, belegte Brötchen, Obst, Schokolade!“ — „Einsteigen!“ Die Zugbeamten schließen die Türen. Aus seinem Dienstraum tritt der Mann mit dem Befehlstab. Da flitzt es heran durch die Sperre, ein wehender beigefarbener Mantel, ein keck aufs Ohr gestülptes Hütchen.

      „Lore! Hierher, Lore!“

      Lore Glant sieht sich eine Sekunde suchend um, findet die Rufenden, Winkenden, hastet den Zug entlang. Der Stationsvorsteher hebt den Stab. Tür wird aufgestoßen! Sechs, acht Hände ziehen Lore hinein, führen sie im Triumph zu den beiden belegten Abteilen. Atemlos, erschöpft läßt sie sich auf den Sitz fallen. Ihre Augen strahlen und lachen die „Jungs“ an. —

      „Uff! Abgehängt! Was bin ich, Kinder?“

      „Unsere Lore!“ lacht und jubelt es lärmend um sie, während der Zug aus der Halle gleitet.

      2. Kapitel

      Ganz abgesehen davon, daß die Kapelle Begas Schlafwagen als einen unnötigen Luxus betrachtet, es denkt niemand daran, diese nächtliche Bahnfahrt zu verschlafen. Musiker sind nun einmal Nachteulen. Der Beruf zwingt sie meist, bis ein Uhr nachts zu spielen, und dann — na ja, dann will man gern noch ein oder zwei Stündchen „zivil“ beisammen sitzen in irgendeiner soliden, billigen Bierkneipe. Kein Wunder, daß man unter den Menschen dieses Berufes wenig Frühaufsteher findet.

      Die Lichter von Wittenberge flitzen bereits draußen vorbei, und immer noch sind die beiden von der Kapelle Begas belegten Abteile voller Lärm und Lachen. Lore Glant weigert sich hartnäckig zu erzählen, wie sie es angestellt hat, die überspannte Dame aus Brüssel abzuhalftern.

      „Geschäftsgeheimnis,“ lacht sie, als die „Jungs“ zum fünfundsiebzigsten Male in sie dringen, einen ausführlichen Bericht vom Stapel zu lassen. „Aber soviel will ich euch verraten: Ich hatte einen Bundesgenossen dabei. Der wohlproportionierte Herr, der sie begleitete — Delorme oder so ähnlich nennt er sich — war ganz konsterniert, als er erfuhr, was Madame im Berliner Konzerthaus zu bestellen hatte. Er sekundierte mir mit Begeisterung, und ich glaube, Madame selber legte einigen Wert darauf, ihm zu beweisen, daß Hans Böge ihr nicht so unentbehrlich sei.“

      „Das walte Gott!“ seufzt Hans Böge herzlich. Lore blitzt ihn herausfordernd an.

      „Dir wünsch ich noch ’ne ganz andere Frau als Madame Kerkh, die vielleicht ’n bißchen verdreht, aber sonst ganz passabel ist! So eine, die ’ne Hand hat wie der Dönhoffplatz, die dich am Schlafittchen kriegen und schütteln kann, bis du die Engel im Himmel Ciribiribin heulen hörst! Eine, die dich an der Strippe hält, die jedem Abend mit dem Punktroller hinter der Tür steht, wenn du ’ne halbe Stunde zu spät heimkommst, eine, die ...“

      „Kurz — ne Schwester von Auguste Erlenkamp!“

      Die „Jungs“ lachen schallend zu dem Zwischenruf und blinzeln dem Klavierspieler Erlenkamp zu, der außerhalb seines Berufs immer ein Gesicht macht, als wollte er irgend jemand totschlagen. Es ist allgemein bekannt, daß seine Frau, die würdige Auguste Erlenkamp, ein richtiges Hauskreuz ist. Auch Lore lacht mit, wendet sich aber dann gleich wieder hitzig an den sorglos grinsenden Hans Böge.

      „Ich kann doch nichts dafür,“ verteidigt der sich. „Die gute Yvonne läuft mir ...“

      „Ach was, ich red’ gar nicht von der Belgierin! Bei dir ist ja immer ein halbes Dutzend Mädel im Fahrwasser! Du weißt ja nie, ob dich die Luise in der Charlottenstraße erwartet oder umgekehrt, und wenn man dir zu nahe kommt, riechst du wie’n Lawendelbeet! Von all den rosa Briefchen, die du in den Taschen hast! Pfui Deubel! Geh in dich, Hans, und bessere dich! Oder heirate in Gottes Namen! Ich hab’ dir heut’ zum letztenmal geholfen, darauf kannst du sämtliche Gifte nehmen!“

      „Bravo, Lore! Gib ihm Saures!“

      „Ach, Quatsch! Es verlohnt sich ja nicht. Ich red’ lieber gar nicht mehr mit dem Herrn.“ Lore wirft Hans Böge noch einen vernichtenden Blick zu und sieht sich im Abteil um. „Wo ist denn Kellner?“

      „Sitzt allein nebenan und komponiert: Kleopatras letzter Seufzer, Opernmusik mit achtundzwanzig Fagotten!“

      „Dann geh’ ich ’nüber zu ihm. Laßt mich mal durch!“

      Lore entwindet sich der lustigen Gesellschaft und findet wirklich mutterseelenallein den Meister des Saxofons, Urban Kellner, der stumm und gedankenschwer den Kopf in die Hand stützt. Urban Kellner leidet schwer unter der Last des Lebens. Schon der Name allein, den sein Vater ihm auf den Weg gegeben hat, quält ihn. Kommt er mal in ein Lokal, wo die Kameraden sitzen, so brüllen ihm jedesmal ein halbes Dutzend Kehlen entgegen: „Kellner! Zahlen!“ Der Witz ist abgestanden, aber unsterblich in der Kapelle Begas. Und Urban Kellner fährt jedesmal ein Schrecken in die Glieder, wenn er unvermutet den befehlenden Ruf hört. Denn zu wirtschaften versteht er nun einmal nicht, und unbezahlte Rechnungen hängen immer wie Damoklesschwerter über seinem Haupte. Doch das ist das Wenigste. Viel quälender und bitterer sind die Schatten, die seine Seele umdüstern. Urban Kellner ist ein anerkannter Meister seines Instruments, ein Künstler von Gottes Gnaden. Alle, auch Silvester Begas, erkennen das an. Er selber aber träumt von viel höheren Dingen. Urban Kellner ist davon überzeugt, daß in ihm ein Beethoven oder doch zürn mindesten ein Strauß schlummert. Sein Hirn steckt voller Kompositionen. Wenn man nur Zeit hätte, sie zu Papier zu bringen! Die Kameraden lachen gutmütig darüber. Selbst Silvester Begas hat eine Sinfonie, die er einmal in Schmerz und Nöten geboren und die er seinem Kapellmeister vorgelegt


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