Fluch der verlorenen Seelen. Darina D.S.

Fluch der verlorenen Seelen - Darina D.S.


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war es die reine Wut und der ungezügelte Hass. Jedoch nicht nur auf sich selbst, weil sie aufgegeben hatte, sondern auf alles und jeden, der sie enttäuscht und im Stich gelassen hatte.

      Genug!, dachte sie und schlug mit der Faust gegen den Spiegel, doch dieser zerbrach nicht – er war aus Plexiglas. Amalia presste die Lippen aufeinander, ihre Wunden schmerzten, die Nähte an ihren Handgelenken spannten ihre Haut. Verbittert starrte sie ihr Spiegelbild an.

      »Was soll ich tun?«, fragte sie mit einer Ernsthaftigkeit, als würde sie tatsächlich auf eine Antwort ihres Abbilds warten. Stöhnend lehnte sie ihre Stirn an den Spiegel, ihr Selbstmordversuch war gescheitert und jetzt hielten sie alle erst recht für verrückt. Amalia schloss die Lider. Sie wusste, dass sie so nicht weitermachen konnte. Aufgeben hatte nicht funktioniert, also blieb ihr nur zu kämpfen. Scharf zog sie die Luft ein, hob den Kopf an und wischte die Tränen aus ihren Augen. Sie zwang sich zu einem Lächeln und drehte sich fast schon mechanisch in Richtung Dusche um.

      Zitternd griff sie nach der Schlaufe des Krankenhaushemdes in ihrem Nacken. Ihre Unterarme pochten; eine so simple Handlung wie das Öffnen einer einfachen Schleife fiel ihr so unglaublich schwer, dass sie zwei Anläufe dafür benötigte. Das viel zu große grün-weiß gepunktete Stück Stoff glitt mühelos von ihrem Körper zu Boden. Erleichterung breitete sich in ihr aus. Es fühlte sich an, als hätte sie zumindest eine der erdrückenden Lasten von ihrem Leib gestrichen. Amalia wusste, dass sie nicht an diesen Ort gehörte, dennoch konnte sie nichts tun, als sich den Regeln dieser Einrichtung vorerst zu beugen. Schwermütig atmete sie aus und löste vorsichtig die Verbände an ihren Handgelenken. Je näher sie ihrer Haut kam, desto deutlicher zeichneten sich Blutflecken auf den Bandagen ab. Behutsam trennte Amalia den verklebten Stoff von den Blutkrusten und ließ achtlos die Binden auf den Boden fallen. Seufzend betrachtete sie die Nähte an den Handgelenken und hörte, wie Nancy rief:

      »Ach, Amalia, bevor ich’s vergesse: Wenn du Duschen willst, pass auf, dass du die Wunden nicht nass machst! Brauchst du wasserdichte Pflaster oder meine Hilfe?«

      »Nein, alles gut.« Zwar war Amalia noch ein bisschen schwummerig, aber sie wollte in solch intimen Momenten lieber allein sein. Langsam schlängelte sie sich hinter den Duschvorhang. Sie fröstelte, ihre Knie schlotterten, hastig drehte sie das warme Wasser auf.

      Amalia hob den Kopf und schloss die Augen. Angespannt ließ sie das Gesicht von den noch kalten Tropfen berieseln. Dabei achtete sie darauf, dass sie ihre Hände weit genug vom Wasser fernhielt. Je wärmer das Wasser wurde, desto mehr löste sich die Anspannung. Sie genoss die wohltuende Wärme und schaltete für einen Moment ab, bis ihre Gedanken erneut eine innere Unruhe auslösten. Doch statt sie zu verdrängen, gewährte sie ihnen Zutritt. Sie riefen die verblassten Erinnerungen an die vertraute Jungenstimme, die Amalia kurz vor ihrer Bewusstlosigkeit vernommen hatte, wach.

      Woher kannte sie diese Stimme? Amalia legte die Stirn in Falten, doch sosehr sie sich auch bemühte, sie war nicht in der Lage, tiefer in dieses Geflecht der Vergangenheit einzudringen. Wer er war oder welche Bedeutung er für sie hatte, vermochte sie nicht zu sagen.

      »Aaamaliaaaa«, Nancys durchdringende Stimme riss sie aus ihrer Trance.

      »Was ist?«, erwiderte Amalia erschrocken.

      »Du bist schon seit über einer Stunde im Bad. Wenn du dich jetzt nicht beeilst, schleife ich deinen kleinen Hintern persönlich raus.«

      Geschockt über die Zeit, die wie im Fluge vergangen war, rauschte Amalia aus der Dusche, griff hastig nach einem Handtuch und trocknete sich in Windeseile ab.

      »Ich bin gleich fertig. Nur noch die Haare trocknen und anziehen«, keuchte sie schon fast atemlos. Als sie nach einigen Minuten aus dem Bad trat, wartete Nancy bereits mit Verbandsmaterial auf sie.

      Nachdem die Krankenschwester ihr die Verbände angelegt und ihre Vitalwerte gemessen hatte, liefen sie zur Kantine. Amalia fühlte sich unwohl in der Kleidung und auch die Vorstellung, in einem großen Raum voller ihr unbekannter Gesichter sein zu müssen, bereitete ihr Unbehagen. Amalia wäre lieber in ihrem Zimmer geblieben; sich in einer dunklen Ecke zu verkriechen und alles auszublenden – genau das wollte sie jetzt. Der Kontakt mit Menschen war ihr noch nie leichtgefallen und es lag an ihr, dass andere Jugendliche und sogar Erwachsene sie gemieden hatten, verhielt sie sich doch schon seit frühester Kindheit sonderbar und erlitt regelmäßig Panikattacken, wenn sie wieder einmal glaubte, die merkwürdigen Kreaturen gesehen zu haben.

      So war es Amalia, die es einfach nicht schaffte, sich in das gesellschaftliche Gefüge einzugliedern, und mit ihren wahnwitzigen Vorstellungen irgendwelcher Monster den anderen sogar Angst einjagte. Sie fühlte sich unverstanden, mutterseelenallein und ungeliebt und so stand sie jetzt voller Selbstzweifel inmitten der Kantine, umgeben von augenscheinlich Gleichgesinnten. Doch waren sie das tatsächlich?

      Amalia jedenfalls sah das anders, ihre Gesichtszüge entgleisten im Sekundentakt. Von skeptisch über ungläubig bis hin zu belustigt war alles dabei. Überall hörte sie Stimmen – manche schrill und laut, andere leise oder sogar eine verstellte. Ein Tablett flog durch die Luft und ein Jugendlicher steckte aus ihr unersichtlichen Gründen seinen Kopf in den Mülleimer und rannte mit ihm als Hut durch den Raum und die diensthabenden Pfleger hinter ihm her.

      »Na, dann auf in den Wahnsinn!«, sagte Amalia schon fast heroisch und erkannte selbst die Ironie in ihrer Stimme.

      »Viel Spaß. Wenn du Fragen hast, wende dich an die Pfleger. Ich hole dich in zwei Stunden von deinem Zimmer ab und bringe dich zu deiner ersten Sitzung mit Doktor Jones«, sagte Nancy.

      Bevor Amalia auf Nancys Worte reagieren konnte, presste sich diese schon wieder aus der Tür. Auch wenn sie die Frau erst seit Kurzem kannte, wäre es ihr lieber gewesen, sie hätte sie jetzt nicht allein gelassen. Langsam, wie durch ein Minenfeld, bewegte sie sich vorsichtig auf die Essensausgabe zu. Hauptsache, keine Aufmerksamkeit erwecken. Doch auf halbem Weg hielt sie jemand am Oberarm fest. Hastig wirbelte Amalia herum. Der schwarzhaarige Junge, dessen weit aufgerissene grüne Augen ihn verrückt wirken ließen, schaute sie an und schrie:

      »Pass auf! Pass auf! Pikachu ist der Teufel.« Seine Stimme veränderte sich von laut und schrill zu leise und tief. »Er wird uns holen. Wir müssen alle sterben!«

      Amalia zog erschrocken die Augenbrauen hoch, sie hatte ihre Gesichtszüge nun erst recht nicht mehr unter Kontrolle. Von einer Sekunde auf die andere wandelte sich ihr weit offenstehender Mund zu einem zusammengepressten Schlitz. Sie wusste nicht warum, aber in ihrer Kehle braute sich ein Lachen zusammen, das unvermittelt aus ihr herausbrach. Eilig schnellte sie herum und befreite so ihren Arm aus dem festen Griff des Jungen. Dann hielt Amalia kurz die Luft an und stieß sie beherzt wieder aus, wiederholte das Prozedere noch zwei Mal, um sich zu beruhigen. Gerade als sie sich gefangen hatte, bemerkte sie aus dem Augenwinkel einen kleinen blonden Jungen, der genüsslich auf dem Kopf einer Barbiepuppe herumkaute – nur die weißblonden Haare ragten aus seinem Mund. Sichtlich verstört marschierte Amalia weiter auf die Essensausgabe zu und starrte dabei stur auf den Boden. Dennoch spürte sie die Blicke der anderen und die der beaufsichtigenden Pflegekräfte, die sich überall in der Kantine aufhielten und glaubten, dabei unauffällig zu sein.

      Jeder Schritt verstärkte ihre Anspannung und schnürte den Knoten in ihrem Magen immer fester zu. Eine Kleinigkeit essen und dann sofort auf ihr Zimmer, mehr wollte sie nicht. Doch selbst das stellte sich als komplizierter heraus, als sie gedacht hatte. Endlich bei der Essensausgabe angekommen, wusste sie nicht so recht, was sie da vor sich sah.

      »Ähm … entschuldigen Sie …« Ein kräftiger älterer Mann drehte sich langsam zu ihr um. Dabei schnaufte er schwerfällig, so, als wäre er einen Marathon gelaufen. Amalia sah mit Ekel, wie eine einzelne Schweißperle seine Schläfe hinabrann, bis sie schließlich im langen, grauen Bart verschwand. Sein weißes Muskelshirt war voller Fettflecken und die Schürze dunkelrot befleckt. Amalia schien es, als stünde ein obdachloser Santa Claus vor ihr. Sein unappetitlicher Anblick raubte ihr das bisschen Hunger, das sie noch vor einer Minute verspürt hatte. Dennoch fragte sie höflich: »Was genau ist das alles hier?« Sie wies dabei auf die ihr dargebotenen bunt gemischten Speisen. Grunzend räusperte sich Santa, einen anderen Namen bekam er nicht mehr – er hatte sich durch sein Erscheinungsbild


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