Fluch der verlorenen Seelen. Darina D.S.
dich an eine andere Einrichtung zu verweisen.«
Amalia fiel die Kinnlade nach unten.
»Professor Adams, stellvertretender Leiter besagter Institution, wird gleich hier eintreffen und sich persönlich mit dir unterhalten.«
Das Mädchen rührte sich nicht, die Worte raubten ihr die Luft zum Atmen.
Wie Seifenblasen zerplatzte ihr Traum von einer baldigen Entlassung. Eine spezielle Einrichtung? Sollte es nun etwa noch schlimmer für sie kommen? Das war ein Albtraum, aus dem sie dieses Mal nicht erwachen würde! Bevor Amalia ihren Gedanken weiterspinnen oder auch nur ein Wort sagen konnte, klopfte es an der Tür. Ganz langsam drehte sie den Kopf und sah, wie ein älterer Mann, der verblüffende Ähnlichkeit mit Albert Einstein hatte, den Raum betrat. Hinter ihm standen zwei weitere Personen. Amalia war nicht in der Lage, ihre Gesichter zu sehen, denn sie trugen schwarze Umhänge mit groß geschnittenen Kapuzen, die das Gesicht komplett verdeckten. Ein Wappen auf der linken Seite, in Höhe des Herzens, zierte die mönchsähnliche Kluft. Ein silbernes D und ein S. Von solchen Initialen hatte Amalia noch nie zuvor gehört oder gar gelesen. Beide Gestalten trugen einen langen Rosenkranz aus schwarzen Perlen um den Hals, an dessen Ende ein silbernes Kreuz befestigt war. Der ältere Herr mit den grauen, lockigen Haaren dirigierte Doktor Jones mit einem kurzen Blick zur Tür nach draußen. Nachdem der Psychiater den Raum wortlos verlassen hatte, setzte sich der Unbekannte Amalia gegenüber. Seine Begleiter blieben stumm rechts und links neben dem Türrahmen stehen. Der stellvertretende Leiter musterte Amalia aufmerksam.
»Ich bin Professor Adams, stellvertretender Leiter der Nightingale Akademie. Du musst keine Angst haben. Wir wissen über dich Bescheid und können dir helfen«, sagte der Professor mit einer ruhigen und sanften Stimme.
Amalia runzelte die Stirn. Sie hatte keine Ahnung, was die glaubten über sie zu wissen.
»Ach … Und worüber wissen Sie Bescheid?« Sie schluckte schwer und versuchte, den Kloß in ihrem Hals damit zu bezwingen. Aber nein, ihre Kehle war trockener denn je. »Und was ist die Nightingale Akademie?«, merkte sie hellhörig an.
Professor Adams beugte sich zu ihr vor und lächelte freundlich. Langsam streckte er seine Hand nach ihrer aus. Amalia zuckte, als er sie am Handrücken berührte, doch seine sehr herzlich wirkenden blauen Augen beruhigten sie.
»Ich weiß, du hast viele Fragen und du wirst auf jede eine Antwort bekommen, doch alles zu seiner Zeit. Was du jetzt wissen musst, ist, dass du nicht allein bist. Es gibt noch mehr Menschen mit solch einer Wahrnehmungsgabe«, erklärte er und strich dabei über ihre Hand.
Amalia presste die Lippen zusammen. Sie war misstrauisch, denn das alles klang viel zu schön, um wahr zu sein. Fast wie ein Märchen, doch sie wollte nicht wieder enttäuscht werden. Also fragte sie skeptisch: »Sie halten mich nicht für verrückt?«
Der ältere Mann schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nicht! In unserer Einrichtung wirst du lernen, wie du mit deiner Begabung umzugehen hast und diese dann sogar für dich nutzen kannst. Ja, du bist anders, denn du bist etwas Besonderes.«
Amalia hörte die Worte des Professors nur noch wie ein Echo aus weiter Ferne. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf die Gestalt, die plötzlich über seinem Kopf an der Decke hing. Schon wieder … Diese Kreaturen würden sie wohl nie in Ruhe lassen. Es war nicht die Gleiche wie in der Krankenstation, was Amalia nicht weiter überraschte, da sie meist unterschiedliche Wesen sah. Dieses Exemplar hatte eine ähnliche optische Erscheinung. Die leeren Augenhöhlen, lange, dunkle, knochige Klauen und schwarze Fetzen, die von seinem menschenähnlichen Körper hingen, roch aber viel schlimmer.
Der Geruch von Eiter, Blut und Fäulnis stieg ihr in die Nase. Sie würgte mehrfach, ihre Hände zitterten, die Atmung wurde heftiger. Panik breitete sich wie die Dunkelheit in der Nacht in ihr aus. Schweißperlen traten auf ihre Stirn und dem Gesicht entwich sämtliche Farbe. Ihre Pupillen weiteten sich so stark, dass von der bernsteinfarbenen Iris nur noch ein schmaler Ring, wie bei einer Mondfinsternis, blieb. Amalia wusste, dass sie jeden Augenblick eine Panikattacke bekommen würde.
Plötzlich bemerkte sie aus dem Augenwinkel, dass eine der Personen in der seltsamen Kluft den Zeigefinger in Richtung der unheimlichen Gestalt hob und daraufhin die andere ein mächtiges Schwert unter ihrem Umhang hervorzog. Amalia zuckte vor Schreck zusammen. Wie gebannt starrte sie auf die Waffe, deren lange, geschwungene Klinge der Unbekannte direkt auf das Wesen richtete. Was war das für ein seltsames Schwert? Der Rücken der Klinge war schwarz, die Schneide glänzte silbern und dann war da noch dieser eigenartige hellblaue Schimmer, der die Waffe umgab. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen; es wirkte wie aus einem Fantasyspiel. Die ruckartige Bewegung der Klinge riss Amalia aus ihrer Trance. Entsetzt sah sie mit an, wie das Schwert die Gestalt durchbohrte. Das Reißen von Fleisch dröhnte in ihren Ohren, lautes, schrilles Geschrei erfüllte den Raum. Amalia japste panisch nach Luft, Angst schnürte ihre Kehle zu. Bildete sie sich das ein? Sie ballte die Hände zu Fäusten und presste ihre Nägel in die Handflächen. Sie fühlte den Schmerz, doch ihre Wahrnehmung veränderte sich nicht – es war real. Intuitiv wich sie nach hinten, als die Monstrosität direkt vor ihr auf dem Tisch landete, nachdem der Fremde die Klinge kraftvoll aus der Kreatur gezogen hatte. Eisblaue Flammen umschlossen das sich im Todeskampf vor ihr windende Wesen. Amalia war nicht in der Lage, ihre Augen von den ungewöhnlichen Flammen abzuwenden, und wurde Zeugin, wie sich die Gestalt langsam darin auflöste. Es war merkwürdig, dieses Feuer war weder heiß, noch hinterließ es irgendwelche Aschereste. Amalia stierte mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen auf den Tisch, sie konnte nicht glauben, was da gerade passiert war. Erst als sie die Worte des Schwertkämpfers hörte, konnte sie sich aus ihrer Starre befreien.
»Verdammt, diese Groohls sind echt überall, schlimmer als Kakerlaken!«
»Was? Wie? Ich … Ich kann es nicht fassen … Ihr seht sie auch?«, stammelte Amalia mit zitternder Stimme und wischte sich die Tränen aus den Augen. Nun begriff sie, dass der ältere Herr tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte und sie ihnen vertrauen konnte. Erleichtert atmete sie aus; endlich sah sie einen Lichtblick am Horizont. Professor Adams ergriff ihre Hand und schaute sie verständnisvoll an.
»Bitte, beruhig dich. Ich habe dir gesagt, du bist nicht allein. Komm mit uns und du wirst Antworten bekommen. Wir haben bereits alles geklärt, du kannst sofort mit uns kommen, wenn du möchtest.«
Ohne zu zögern oder noch etwas zu hinterfragen, stimmte Amalia zu und folgte ihnen zu einem schwarzen Geländewagen. Bevor sie einstieg, wurde ihr eine Augenbinde angelegt, denn es gab nicht viele Menschen, die den Standort der Akademie kannten, und so sollte es bleiben.
2. Die Akademie
Ein Ort, so fremd und doch vertraut.
Rastlose Suche nach Zugehörigkeit
zerschmettert durch einen Moment der Hoffnung.
Die schrecklichen Gedanken an den Traum verblassen.
Zuhause, der Ort, an dem die Seele ruht.
Für Amalia fühlte sich die Autofahrt wie eine Ewigkeit an. Die bedrückende Stille machte sie nervös und brachte sie ins Grübeln. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf:
Wie haben diese Leute sie gefunden? Was erwarteten die Menschen dort von ihr? Was hatte es mit diesem Schwert auf sich und den Kreaturen, die sie sah? Wo befand sich diese ominöse Akademie?
All das hätte sie gerne gefragt, doch sie traute sich nicht. Immerhin konnte sie mutmaßen, wo sie sich befand. Zumindest hatte sie den Eindruck, dass das Meer in der Nähe war. Der unverkennbare salzige Geruch der Meeresluft stieg immer wieder auf. Doch auch die Berge konnten nicht weit entfernt sein, denn der Weg war oftmals holprig und steil.
»Wir sind da. Du kannst die Augenbinde jetzt abnehmen«, hörte sie den Professor sagen. Amalia nahm die Binde hastig ab, um endlich zu sehen, was sie erwartete. Mit zusammengekniffenen Augen stieg sie aus dem Auto und streckte sich; die Abendsonne blendete.
Vor