Fluch der verlorenen Seelen. Darina D.S.
hatte diese bereits an ihr gesehen. Vermutlich der letzte neumodische Schrei. Freyas Haare waren zu einem Fischgrätenzopf geflochten. Während Amalia noch damit beschäftigt war, Freya zu bewundern, drangen deren Worte in ihren Geist.
»Bitte was? Was meinst du?«, fragte sie und zog eine Augenbraue nach oben. Woher wusste Freya von der Bibliothek?
»Ja, deine Haare sehen aus, als hätten Vögel ihr Nest darin gebaut.« Freya nahm dabei eine von Amalias zerzausten Strähnen in die Hand.
»Nein, das meinte ich nicht. Woher weißt du davon? Ich meine, von dem nächtlichen Ausflug?«, fragte Amalia und dachte: Es ist wohl doch kein Traum gewesen. Wie in Trance strich sie, dabei ihre Haare glatt.
»Tja, wir wissen alle, dass du mitten in der Nacht in der Bibliothek warst und ein Kinderbuch gelesen hast.«
Amalia war fassungslos, ihr Mund stand weiter offen als die Pforten der Hölle bei Luzifers Empfang.
»Du musst mich nicht gleich anschauen wie ein U-Boot. Julien ist eben manchmal eine Tratschtante.« Freyas hämisches Grinsen ließ darauf schließen, dass er nicht freiwillig getratscht hatte.
»Julien? Was hat er damit zu tun?«, murmelte Amalia.
»Nachdem unsere liebe Kyuu dich anscheinend so erschreckt hat, dass du ohnmächtig auf den Boden geklatscht bist, war er so nett, dich ins Bett zu tragen.« Freya kicherte.
Um schnell aus dieser peinlichen Situation zu entkommen, sprang Amalia auf. »Ich geh jetzt duschen«, rief sie und entschwand in das kleine Badezimmer.
Amalia schlug die Tür hinter sich zu und Freya musste schmunzeln; die Neue weckte immer mehr ihre Neugierde. Allein die Geschehnisse vom letzten Tag waren Grund genug, genauer hinter ihre Fassade zu sehen. Vom Interesse des Akademieleiters an ihr mal abgesehen. Zwar war es nichts Besonderes, dass junge Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten an die Akademie geholt wurden – dafür war sie schließlich da –, aber diese Dringlichkeit, jemanden herzuholen, hatte es so noch nie gegeben. Freya war erpicht darauf, mehr darüber zu erfahren. Tief in ihren Gedanken versunken, lief sie wie ein Tiger im Käfig auf und ab und ließ die Ereignisse der vorherigen Nacht Revue passieren:
Wie so oft in letzter Zeit war sie auch in dieser Nacht von Albträumen geplagt aufgewacht. Während sie noch halb schlafend aus dem Fenster blickte, schreckten sie seltsame Laute, zuerst ein Rumpeln und dann ein Poltern, auf. So etwas kam immer mal wieder vor, dennoch packte sie die Neugierde und sie wollte den Geräuschen auf den Grund gehen. Als Freya auf den Flur trat, vernahm sie schwerfällige Schritte und Stöhnen von den Treppen her. Vorsichtig beugte sie sich über das Geländer. Dort erkannte sie Julien, wie er mit jemandem auf den Armen mühselig die Stufen hochstieg. Erst als er näherkam, entdeckte sie, dass es Amalia war. Bevor Julien Freya sehen konnte, versteckte sie sich in einer Nische auf dem Gang. Gespannt und besorgt zugleich beobachtete sie, wie er Amalia in ihr Zimmer trug. Kaum hatte er den Raum verlassen, sprang Freya ihm in den Weg und trällerte:
»Julien, was ist passiert?«
»Wo zum Teufel kommst du her?«, fragte er erstaunt und erzählte ihr danach, dass Kyuu ihn geholt hatte, als Amalia das Bewusstsein in der Bibliothek verloren hatte, und gentlemanlike, wie er eben war, hatte er sie den ganzen Weg bis in ihr Zimmer getragen.
Gedankenverloren bemerkte Freya nicht, wie Amalia aus dem Bad kam.
»Die Dusche war richtig erfrischend«, strahlte Amalia. Sie trug wieder Freyas Kleidung, nur diesmal Leggins, ein dunkles Top und das blaue Karohemd. »Würdest du mir die Haare richten? Ich finde deine Frisur so schön.«
»Klar! Komm, setz dich auf den Stuhl, damit ich dir was zaubern kann. Hast du eine Bürste?«
Amalia schüttelte verneinend den Kopf und nahm Platz.
»Kein Problem, das habe ich mir schon fast gedacht.« Freya zog eine kleine Haarbürste aus ihrer Jackentasche. Behutsam bürstete die Brünette Amalias haselnussbraune Haare und schielte dabei auf die rosafarbenen Narben auf Amalias Handgelenken.
»Warum sprichst du mich nicht darauf an? Du weißt doch sicher, weshalb ich in der Psychiatrie war.« Amalia hatte Freyas Blick in der Reflexion der Fensterscheibe gesehen.
»Natürlich weiß ich, was passiert ist, aber Vergangenheit ist Vergangenheit und jeder macht mal Fehler«, antwortete das hübsche Mädchen, ohne weiter darauf einzugehen.
»Wieso denkst du, dass es ein Fehler war?«
»Jeder Mensch hat sein Päckchen zu tragen. Manche haben schwerere, andere eben leichtere. Aber in meinen Augen verletzt man mit einem Selbstmord nicht nur sich, sondern auch alle um einen her…«
»Tzzz …«, unterbrach Amalia sie. »Ich habe niemanden mehr, der um mich trauern würde. Meine Eltern starben, als ich noch klein war. Mein älterer Bruder war schwer krank und verstarb ein Jahr vor ihrem Tod. So hatten es mir zumindest der Kinderpsychologe und meine Pflegeeltern gesagt. Ich kann mich an diese Zeit nicht mehr erinnern … Und fangen wir erst gar nicht von meiner Pflegefamilie an, die hatten es nur auf das Geld abgesehen.« Sie seufzte schwer und fuhr fort: »Ich wusste, dass es noch etwas anderes gibt, deshalb hatte ich keine Angst zu sterben, und vielleicht hätte ich sogar meine Familie wiedergesehen.« Bei dem letzten Satz zitterte Amalias Stimme.
»Ja, du bist eine der Wenigen, die über den Tod hinaussehen können, aber weißt du auch, was dich auf der anderen Seite erwartet hätte? Was wäre, wenn du vom Regen in die Traufe gekommen wärst? Hast du dir darüber mal Gedanken gemacht? Dein Leben ist ein Geschenk, nimm es dir nicht selber weg. Und vergiss nicht, Amalia, dein Platz ist jetzt hier. Gib nicht wieder so schnell auf.« Freya ließ Amalias Haare los und streichelte über ihre Schultern. Sie spürte ein leichtes Zittern. »So, genug geplaudert. Ich mach deinen französischen Zopf fertig und dann müssen wir los. Fürs Frühstück wird es leider nicht mehr reichen. Aber um zwölf Uhr gehen wir zum Mittagessen«, sagte Freya mit sanfter Stimme und ehe Amalia sich versah, wurde sie schon wieder am Arm gepackt und aus dem Zimmer gezogen.
Amalia war in Gedanken immer noch bei ihrem Gespräch mit Freya und neue Rätsel taten sich vor ihr auf. Sie hatte jetzt ihren Platz hier. Doch war dem wirklich so? Sie kannte die Menschen an der Akademie nicht und wusste ebenso wenig, was der eigentliche Zweck dieser Einrichtung war. Fragen über Fragen breiteten sich in ihrem Kopf aus.
»Hallo? Erde an Amalia. Wir sind da!«, rief Freya und unterbrach ihre Grübelei.
»Ähm … Welches Fach habe ich jetzt?«, fragte Amalia. »Ich habe weder Bücher noch was zum Schreiben.«
»Du hast jetzt Geschichte und Mythologie und im Anschluss Englisch und Latein. Danach hole ich dich wieder ab. Alles, was du brauchst, liegt auf deinem Pult im Klassenzimmer. Viel Spaß. Ich muss weiter«, antwortete Freya, drehte sich um und verschwand um die Ecke.
Nervös öffnete Amalia die Tür zum Klassenraum.
»Ah, Sie müssen Miss Ried sein. Ich bin Mister Black. Ich unterrichte Geschichte, Seelenkunde, Latein und Englisch. Bitte nehmen Sie in der zweiten Reihe am dritten Pult Platz.« Der Lehrer deutete mit der Hand auf den Platz, Amalia nickte und ging zügig zum freien Tisch. Das Klassenzimmer war voll mit unbekannten Gesichtern, die sie alle heimlich beäugten. Sie begutachtete die Lektüre und den Block, die vor ihr auf dem Tisch lagen.
»Klasse, schlagt eure Bücher auf Seite 138 auf. Wir behandeln heute die Hexenprozesse von Salem«, sagte Mister Black und strich seine pechschwarzen Haare zurück.
Vor Amalia lagen drei dicke Wälzer und sie wusste nicht, welchen davon sie jetzt brauchte.
»Es ist das rot eingebundene Buch«, flüsterte das Mädchen mit den aschblonden Haaren und hellgrünen Augen links neben ihr. Bevor sie die Lektüre aufschlug, musterte sie den jungen Lehrer, der erneut seine Brille zurechtrückte und mit feuriger Begeisterung über besagte Prozesse referierte.
Die Zeit verging wie im Flug. Amalia bemerkte erst, dass es schon zwölf war, als die Pausenglocke läutete. Sie wusste ja bereits, wie ungeduldig Freya war, deshalb raffte sie hastig alle Sachen zusammen und rannte voll beladen hinaus. Wie