Fluch der verlorenen Seelen. Darina D.S.
und zwar schnell. Die Zahnräder ratterten – sie brauchte mehr Zeit! Ungeduldig wippte sie mit der Fußspitze auf und ab.
»Du bist doch erst 16 Jahre alt. Ich möchte nur verstehen, was dich zu so einem drastischen Schritt verleitet hat«, erklärte der Arzt ergänzend.
Amalia schloss kurz die Augen und atmete schwermütig aus. »Na ja, eigentlich ist das ganz simpel: Es war nicht mehr und nicht weniger als ein Schrei nach Aufmerksamkeit.« Sie betete, dass er ihr glaubte und sie nicht für verrückt, sondern nur für ein verwöhntes, Aufmerksamkeit heischendes Mädchen hielt, wie ihre Pflegemutter es auch immer tat. Ihr war durchaus bewusst, dass es nicht die beste Erklärung war, und wenn sie mehr Zeit gehabt hätte, wäre ihr sicherlich auch etwas Besseres eingefallen. Doch nun war es zu spät sich zu grämen.
Er lehnte sich wieder zurück, griff nach einem dünnen Ordner, der zwischen Büchern auf dem Schreibtisch lag, und schlug ihn auf.
»Hier, in deiner Akte ist ein Vermerk über einen Anfall in der Krankenstation. Laut des behandelnden Arztes, Doktor Williams, hast du hysterisch geschrien und erschrocken an die Decke gestarrt. Du warst weder ansprechbar, noch konntest du ohne Sedativum beruhigt werden.« Doktor Jones schaute von der Akte auf und musterte sie erwartungsvoll. Gerade als er das Gespräch fortsetzen wollte, stieß Nancy seine Bürotür auf.
»Doktor, bitte gehen Sie schnell in die Kantine. Es geht um Toni … Tuci ist noch einmal gestorben! Ich kann ihn nicht beruhigen!«, rief sie.
»Oh nein, nicht schon wieder!« Der Arzt schüttelte fassungslos den Kopf und legte die Akte beiseite. »Ich gehe sofort! Bitte begleiten Sie Amalia auf ihr Zimmer«, wies er Nancy an und eilte zur Kantine.
Amalia hingegen saß immer noch regungslos auf dem Stuhl und starrte Nancy verwirrt an. Ein Zustand, der langsam zur Regel wurde. Die Krankenschwester winkte sie mit einem netten Grinsen zu sich und machte eine Kehrtwende. Amalia fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Jedoch hatte sie jetzt bis zur nächsten Sitzung Zeit, eine glaubhafte Erklärung für den Vorfall auf der Station zu finden. Wie von der Tarantel gestochen, sprang sie auf und folgte der Schwester. Vielleicht war das ihre Chance, den Kopf noch aus der Schlinge zu ziehen.
»Junges Fräulein, hast du Tuci getötet?«, lachte Nancy.
»Schuldig, aber das Tier existiert doch nicht. Ich meine: Niemand kann es sehen«, sagte Amalia schulterzuckend.
»Gerade du solltest es besser wissen! Nur weil etwas nicht für alle sichtbar ist, bedeutet es nicht, dass es nicht existiert.«
Nancys Aussage raubte ihr den Atem, sie verschluckte sich und hustete. Wusste sie etwa Bescheid? Amalia war überfordert, sie war sich nicht sicher, wie sie mit dieser unterschwelligen Andeutung umgehen sollte. Ihr rasender Pulsschlag dröhnte in den Ohren, ihre Gedanken überschlugen sich und als sie endlich in der Lage war, normale Worte zu formen, waren sie bereits vor der Zimmertür und Nancy verabschiedete sich.
»So, ich muss jetzt weiter. Doktor Jones kann bestimmt etwas Hilfe vertragen.«
Amalia stöhnte und trat in ihr Zimmer ein. Frustriert warf sie sich auf das unbequeme, knarzende Bett. Sie drückte ihr Gesicht ins Kissen und stieß einen lauten Schrei aus. Nancys Worte gingen ihr nicht aus dem Kopf. Was hatte sie getan? Sie wollte nur noch weg von hier, ein normales Leben führen und Freunde haben. Nichts lag ihr mehr am Herzen als ein Zuhause, in dem sie akzeptiert wurde, wie sie war. Endlich Liebe und Geborgenheit zu erfahren, statt immer wiederkehrende Wut und Trauer zu spüren. Diese Gefühle wie auch die Angst, die sich ab und zu daruntermischte, dominierten ihr Leben. Keinen Schritt konnte sie gehen, ohne sich umschauen zu müssen, denn diese unheimlichen Kreaturen überraschten sie überall. Sie verstand nicht, warum diese Wesen ausgerechnet sie verfolgten. Wie sollte sie so jemals dieser unendlichen Leere und Einsamkeit entkommen? Wem konnte sie davon erzählen? Niemand würde sie verstehen und ihre Endlosschleife aus Fragen, auf die sie keine Antworten fand, würde nie abreißen.
Langsam begannen die Tränen zu fließen – zu viele Emotionen übermannten sie wie eine Flutwelle, in der sie zu ertrinken drohte. Sie weinte und schluchzte bitterlich; nicht einmal der Tod nahm sie zu sich. Ihre Augen brannten, ihr Hals schmerzte, der Kopf dröhnte. Allmählich entschwand sie in einen unruhigen Schlaf.
Die darauffolgenden Tage liefen nahezu gleich ab. Amalia wurde jeden Morgen um acht Uhr geweckt, ging duschen und anschließend in die Kantine. Die Essensauswahl variierte zwischen Porridge, Würstchen und anderen Gerichten, die sie nicht sonderlich mochte. Danach folgte eine stupide Therapiesitzung bei Doktor Jones, dem sie wie eine CD auf ›Repeat‹ immer dasselbe erzählte. Natürlich nur das, was er vermeintlich hören wollte. Den Vorfall in der Krankenstation überspielte sie mit einer angeblichen Gedächtnislücke. Ihr einziges Ziel dahinter war, die Psychiatrie so schnell wie möglich verlassen zu dürfen. Doch ab und an beschlich sie das Gefühl, dass er ihren Erklärungen misstraute und nur darauf wartete, dass sie ein klein wenig von ihrer Geschichte abwich. Nach diesen sinnlosen Gesprächen folgte wieder der wortwörtliche Wahnsinn in der Kantine.
So schaffte sie es nahezu jeden Tag, Tuci zu töten und damit ein gewaltiges Drama zu entfesseln. Wenn es ihr einmal nicht gelang, den imaginären Hund in die ewigen Jagdgründe zu schicken, und sie sich ohne Vorfall an einen der Tische setzte, konnte sie ihren Blick nicht von jenem blonden Jungen abwenden, der es mittlerweile geschafft hatte, den gesamten Oberkörper der Puppe abzukauen. Er schien nichts anderes zu tun, als auf dieser Figur herumzubeißen und das Plastik auf den Boden zu spucken. Auch das Antlitz des Teufels wechselte rege von Pikachu über Batman, ja sogar bis hin zu Thor. Sie hatte sich dem psychiatrischen Alltagsgefüge gebeugt, doch wirklichen Anschluss konnte sie, trotz mehrerer Gruppensitzungen, nicht finden. Amalia wusste, dass sie Probleme hatte, aber wer hätte ihr hier helfen können? Zumindest war sie die Nähte los, die ihr Nancy an diesem Abend gezogen hatte. Jetzt blickte sie nur noch auf zwei lange, dünne Narben, die sie nie vergessen lassen würden, weshalb sie hier sein musste.
Die Hoffnung schon fast aufgegeben, sollte sich jedoch am darauffolgenden Tag alles für sie ändern. Zunächst schien der Tagesablauf wie immer. Amalia wurde um acht Uhr morgens geweckt, schlurfte verschlafen und mit völlig zerzausten Haaren zur Dusche und begab sich anschließend zum gemeinsamen Frühstück in die Kantine. Mittlerweile ignorierte sie geflissentlich den Wahnsinn, der hier herrschte, oder versuchte es zumindest, so gut es eben ging. Aber es gab Dinge im Leben, die waren wie der Autounfall, bei dem kaum einer wegschauen konnte, und der kleine blonde Junge mit den kalten eisblauen Augen war Amalias ganz persönlicher Autounfall. Wie eine Gafferin starrte sie ihn an und schaffte es nicht, ihren Blick von ihm abzuwenden, denn irgendwie hatte er es geschafft, eine neue Puppe zu bekommen. Gezwungenermaßen und mit nach unten gezogenen Mundwinkeln sah sie zu, wie der kleine Junge anfing, den Fuß der Barbie genüsslich abzukauen.
Das Aufschlagen der Kantinentür ließ sie kurz aufschrecken.
»Amalia Ried, bitte melden Sie sich umgehend bei Doktor Jones«, rief ein Pfleger, den sie zuvor noch nie gesehen hatte. Ungläubig stierte sie den korpulenten Mann an, dessen Glatze im künstlichen Neonlicht wie die von Meister Proper glänzte. Kurz driftete sie mit ihren Gedanken ab und fragte sich, ob sie ihr Spiegelbild darin erkennen würde. Offensichtlich färbte der Aufenthalt in der Psychiatrie allmählich auf ihre Überlegungen ab. Kopfschüttelnd blickte sie zwischen dem Pfleger und der Uhr an der Wand über der Tür hin und her. Es war noch viel zu früh für ihre tägliche Therapiesitzung mit Doktor Jones. Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus und ihre Gedanken brausten wie über eine Wildwasserrutsche durch ihren Kopf. Unentwegt fragte sie sich, warum er die Sitzung vorverlegt hatte. Noch einmal ging sie geistig sämtliche vorherigen Gespräche penibel durch, doch sie fand keine Unstimmigkeiten. Nervös folgte sie dem Pfleger zum Büro und tippte während des ganzen Weges ihre Fingerkuppen kontinuierlich, beinahe zwanghaft, gegeneinander. Der Pfleger klopfte an die Tür und hielt sie auf Zuruf von Doktor Jones für Amalia auf.
»Ah, Amalia. Danke, dass du so schnell gekommen bist. Wir haben etwas Wichtiges zu besprechen. Bitte setz dich«, sagte der Arzt und deutete auf den Stuhl. Amalia nickte und nahm Platz, dabei begutachtete sie ihr Gegenüber genau. Irgendetwas stimmte nicht.
»Wie du selbst