Fluch der verlorenen Seelen. Darina D.S.
vorbeizuschauen. »Was ist da hinter dir?«
»Oh, das sind die Klamotten von mir, vielleicht passt dir das eine oder andere Teil. Such dir was aus.« Freya streckte ihr einen Stapel Kleidungsstücke entgegen und Amalia nahm ihn grinsend an sich.
»Vielen Dank!«
»Wie wär’s, wenn du dich jetzt umziehst und wir dann essen gehen?«
Amalia nickte und rauschte mitsamt dem Kleiderstapel ins Bad. Nach nicht einmal fünf Minuten präsentierte sie Freya die Klamotten fast wie auf dem Laufsteg.
»Super, das Karohemd steht dir, Blau ist deine Farbe«, sagte Freya, stand auf, ergriff Amalias Oberarm und sauste mit ihr aus dem Zimmer.
Eilig liefen die beiden Mädchen die Treppen nach unten. Unerwartet blieb Freya vor einer breiten Flügeltür im Ostflügel stehen und stieß sie mit einem Ruck auf. Sie hielten einen Moment inne, damit Amalia die Möglichkeit hatte, sich kurz umzusehen. Der Speisesaal mit seiner hohen, stuckverzierten, gewölbten Decke war riesig. Vier Kronleuchter, die genauso aussahen wie der in der Bibliothek, hingen von nachträglich angebrachten Holzbalken herab. Der dunkelbraune Parkettboden glänzte und war so makellos poliert, dass sich die Kronleuchter darin spiegelten. Die langen Tischreihen im Saal lenkten Amalias Aufmerksamkeit auf die gegenüberliegende lang gezogene Glasfront, die ihr einen Ausblick auf die malerische Landschaft, die das Kloster umgab, gewährte. Als sie schließlich den betörenden Duft von Pancakes und Ahornsirup wahrnahm, lief ihr das Wasser im Mund zusammen.
Freya griff Amalias Arm und führte sie zur Essensausgabe. Alle Speisen wurden hier frisch zubereitet und Amalia war von der großen Auswahl schlichtweg überfordert. Von gebratenen Eiern über Obstsalat bis hin zu Würstchen mit Bohnen war alles dabei. Letztlich entschied sie sich für Pancakes, Sirup und allerlei Früchte.
Da sich die meisten Schüler vormittags entweder im Unterricht oder Training befanden, konnten die Mädchen ihren Tisch fast frei wählen.
Nachdem sie in Ruhe gegessen hatten, offenbarte Freya, dass sie ihr noch einen weiteren wichtigen Raum zeigen müsse, daher gingen sie zur Krankenstation, die auf der Nordseite lag. Professor Adams hatte Freya am Vorabend für die seltsame Auswahl der Räumlichkeiten, die sie Amalia gezeigt hatte, gerügt, also besann sie sich nun auf Wesentliches.
»Wenn irgendwas ist, wende dich an Doktor Frances oder Schwester Trudi. Sollten sie nicht in der Station sein, kannst du sie rufen. Moment ich zeige es dir.« Freya klopfte kurz an die Tür, dann öffnete sie diese. Amalia streckte den Kopf in das Zimmer. Mehrere Betten, abgetrennt mit Vorhängen, standen in einer Reihe nebeneinander. Dahinter befanden sich Regale und Arbeitsplatten – alles in einem hellgrauen Ton gehalten – mit den unterschiedlichsten medizinischen Geräten darauf.
»Hier an der Seite hängt ein Telefon, das verbindet dich direkt mit einem der beiden.« Freya tippte auf das Wandtelefon neben der Tür. Amalia blickte sich noch einmal im Raum um, daraufhin liefen die Mädels gemeinsam wieder zu ihrem Zimmer. Sie unterhielten sich dort noch eine Weile, bis die Brünette zum Training musste. Dann fiel Amalia erschöpft ins Bett – die letzten Tage waren doch kräftezehrender gewesen, als sie zunächst angenommen hatte.
Ein eisiger Luftzug riss Amalia aus ihrem Traum, in dem sie durch die Gänge der Akademie gegeistert war. Um sie herum herrschte Dunkelheit, bis sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten. Erschrocken realisierte sie, dass sie sich nicht in ihrem Zimmer befand. Vor sich erkannte sie die große Flügeltür, die zur Bibliothek führte. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinab und ließ sie frösteln.
Wie war sie hierhergekommen? Schlafwandelte sie? Träumte sie immer noch? Warum leuchteten die Wandlampen nicht? Trotz der Angst, die Amalia beschlichen hatte, spürte sie das Verlangen, die Bibliothek zu betreten. Ehe sie sich versah, stand sie inmitten der Bücher, die sie am Tag ihrer Ankunft bewundert hatte. Wie eine Motte zog es sie zu dem einzigen Licht, das hier brannte. Vollkommene Stille beherrschte den Raum – lediglich ihre eigenen Schritte und ihr hämmerndes Herz waren für sie zu hören. In einem Regal stand auf Augenhöhe eine einzelne leuchtende Tischlampe in Öllampenoptik.
Unbehagen breitete sich in ihr aus. Langsam ließ sie ihren Blick über die Bücher, die das Licht erfasste, streifen. Ein matter dunkelgrüner Buchrücken, auf dem in goldenen Buchstaben ›Alices Abenteuer im Wunderland‹ geschrieben stand, sprang ihr ins Auge. Vorsichtig strich sie über die eingeprägten Lettern des ihr wohlbekannten Buches und nahm es aus dem Regal. Wie in Trance griff sie nach der Lampe, setzte sich an einen Tisch in ihrer Nähe und stellte das Licht dort ab. Zögerlich drehte sie das alte Buch in der Hand. Auf der einen Seite sah sie ein Mädchen – das vermutlich Alice darstellte – mit einem Schwein, das sie in ihren Armen wiegte. Auf der anderen Seite grinste sie die Grinsekatze an. Beide Abbildungen waren ebenfalls in Gold geprägt. Der grüne Stoff des Einbandes hinterließ ein seltsames Prickeln auf ihrer Haut. Es war fast so, als ob das Buch ein eigenes Leben gehabt hätte. Amalia schlug es an einer beliebigen Stelle auf. Die alte schwarze Schrift war für sie erstaunlich leicht zu lesen.
»Aber ich möchte nicht unter Verrückte kommen, bemerkte Alice. Oh, das kannst du wohl kaum verhindern, sagte die Katze. Wir sind hier nämlich alle verrückt. Ich bin verrückt. Du bist verrückt. Woher willst du wissen, dass ich verrückt bin, sagte Alice. Wenn du es nicht wärest, stellte die Grinsekatze fest, dann wärest du nicht hier«, murmelte Amalia vor sich hin. Sie musste unweigerlich schmunzeln, da sie sich selbst in diesem Gespräch wiederfand. Als sie weiterlesen wollte, erregte ein Tropfen roter Flüssigkeit, der auf der Seite landete, ihre Aufmerksamkeit. Verwundert berührte sie den kleinen Fleck, der langsam ins Papier einzog. Es sah aus wie Blut. Ein weiterer Tropfen fiel auf ihren Handrücken. Erschrocken starrte sie nach oben, sah aber nichts. Als sie den Kopf wieder senkte, nahm sie einen metallischen Geruch wahr. Irgendetwas stimmte hier nicht. Amalia fühlte, wie ihre Finger, die das Buch hielten, feucht wurden. Sie hob den Roman mit beiden Händen vor ihr Gesicht und beobachtete, wie Blut aus den Seiten floss und an den Wunden ihrer Handgelenke entlanglief. Ihre Pupillen weiteten sich und füllten ihre Augen zur Gänze aus. Im Licht der Lampe erkannte sie, wie regelrechte Blutmassen plötzlich aus den Büchern in den Regalen herausbrachen. Amalia legte den Roman auf dem Tisch ab, doch ihre Finger hielten den Einband krampfhaft fest. Leises Wimmern ließ sie zusammenzucken. Es war ihr nicht möglich, zu orten, aus welcher Richtung das Geräusch kam. Das Blut aus den Büchern floss über den Boden; wie ein Teppich breitete es sich um ihre Füße aus. Amalia saß wie versteinert da und war nicht in der Lage, mit der Wimper zu zucken. Indessen spürte sie, wie das Blut langsam bis zu ihren Knöcheln stieg. Bald schon würde es ihr bis zum Hals stehen.
Überraschend fühlte sie den Druck zweier Hände, die sich auf die ihren legten, während sie das Buch immer noch festhielten. Mit einem dumpfen Knall schlug der Roman zu und das Blut war verschwunden. Amalia registrierte, wie eine fremde Haarsträhne über ihr Gesicht bis zu ihrer Brust glitt.
»Vorsicht! Bücher sind in der Lage große Macht auf Menschen auszuüben«, wisperte eine unbekannte, sanfte Frauenstimme in ihr Ohr. Ruckartig sprang Amalia auf, dabei kippte der Stuhl krachend zu Boden. Als sie sich umdrehte, fiel sie über das umgekippte Möbelstück und landete hart auf dem Parkett. Eine schlanke Frau mit schwarzem hüftlangem Haar, deren Gesicht sie nicht richtig erkennen konnte, starrte sie aus leuchtend gelben Augen mit ovalen Pupillen – wie die einer Katze bei Dämmerung – an. Amalia hatte nie etwas Vergleichbares gesehen. Plötzlich erkannte Amalia eine langschnauzige Bestie im Schatten der Frau und mit einem Mal wurde alles schwarz …
Lautes Klopfen riss Amalia aus dem Schlaf. Die Sonne blendete und augenblicklich stiegen ihr Tränen in die Augen, die sie zu unterdrücken versuchte. Verwirrt blickte sie sich um. Wie war sie in ihr Zimmer gekommen? Erneut hämmerte es an der Tür.
»Ich komm gleich!«, schrie sie genervt und raffte sich auf.
Doch Freya schien ungeduldig zu sein, denn noch bevor Amalia aus dem Bett schlüpfen konnte, stand sie bereits neben ihr.
»Guten Morgen. Der nächtliche Ausflug hat deinen Haaren überhaupt nicht gutgetan. Du siehst aus wie eine Vogelscheuche«, sagte sie fast mitleidig.
Freya hatte leicht reden, sie sah schon am frühen