Ariane. Claude Anet
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Claude Anet
Ariane
Liebe am Nachmittag
Roman
Aus dem Französischen übersetzt
und mit einem Nachwort versehen
von Kristian Wachinger
DÖRLEMANN
Die französische Originalausgabe »Ariane, jeune fille russe« erschien 1920 bei Éditions de la Sirène, Paris.
Der Übersetzer dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die Förderung.
Neuübersetzung
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2021 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf
Umschlagfoto: © imago images/United Archives; Audrey Hepburn, Love in the Afternoon 1957, Allied Artists
Porträt: © Süddeutsche Zeitung Photo/Alamy Stock Photo
Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-03820-978-2
Inhalt
Erster Teil (Gewissermaßen als Vorrede) I - Vom Hotel London zum Znamenski-Gymnasium II - Tante Warwara III - Der Brief IV - Der Verlobte V - Der Alexanderpark VI - Getrübte Tage
Zweiter Teil I - Boris Godunow II - Ein Abendessen III - Ein Abend wie mancher andere IV - Surgit amari aliquid V - Die Baronin Korting VI - Unvorhergesehene Bewegung VII - Auf der Krim VIII - Trennung IX - Der schöne Sommer X - Wiederaufnahme XI - Leben zu zweit XII - Semper eadem XIII - Die zarte Freundin XIV - Das kleine Haus in der Vorstadt XV - Und weiter XVI - Ein Abendessen XVII - Iuvenilia XVIII - Im Arbat XIX - Das Schulmädchen XX - Am Abgrund XXI - Das Geheimnis XXII - Ein grauer Februartag XXIII - Selbstgespräche Intellektuell-erotische Versuchsanordnung - Nachwort
Zum Autor und zu seinem Übersetzer
Zum Buch
Claude Anet
Erster Teil
(Gewissermaßen als Vorrede)
I
Vom Hotel London zum Znamenski-Gymnasium
Ein Himmel von geradezu morgenländischer Klarheit, ein schöner heller, leuchtender Himmel lag blau wie persischer Türkis über den Häusern und Gärten der Stadt, die noch schlief. In der Stille des Morgengrauens war nur das Pfeifen der Spatzen zu vernehmen, die in wilder Jagd über die Dächer und über die Zweige der Akazien hinwegflogen, das lustvolle Gurren einer Turteltaube hoch in einem Baumwipfel, und in der Ferne das gelegentliche Rumpeln der Achsen eines Bauernkarrens, der nur langsam vorankam auf dem unebenen Pflaster der Sadowaja, der eleganten Hauptstraße der Stadt. Am menschenleeren Domplatz, einer ausgedehnten Sandfläche, lag hinter einer hölzernen Wand der Wirtschaftshof des Hotel London mit seinen drei Stockwerken, dessen eintönige, langgezogene Vorderfront aus grauem Steinmauerwerk entlang der Sadowajastraße lag, trostlos, ohne Balkone, ohne Pfeiler, ohne Säulen, ohne jeden Zierrat.
Das Hotel London, das erste Haus am Platze, war für seine gute Küche bekannt. Junge Leute aus wohlhabendem Hause, Offiziere, Unternehmer und Adel waren die Klientel seines berühmten Restaurants, wo ein Ensemble aus drei abgemagerten Juden und zwei Ukrainern nachmittags, abends und bis tief in die Nacht mittelprächtige Potpourris aus Eugen Onegin und Pique Dame, schwermütige Volkslieder und Zigeunerweisen in stampfenden Rhythmen spielte. Was für herrliche Vergnügungen hatte es in diesem angesagten Restaurant gegeben, was für glanzvolle Abendessen, was für ›Orgien‹ – um den Ausdruck zu verwenden, der damals bei uns im Schwange war, wenn die Rede auf die Feste im Hotel London kam!
Das Restaurant des Hotels bestand aus zwei unterschiedlich großen Sälen. Aber es gab keine Nebenräume. Wer abseits der Menge speisen wollte, nahm deshalb im ersten Stock eine Suite aus Salon und Schlafzimmer, die Leo Davidowitsch, der Hotelportier, stets für seine Stammgäste freihielt.
Dieser Leo, ein Jude mit engstehenden, glanzlosen Augen, war der Alleinherrscher im Haus und eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Stadt. Die Honoratioren der Gegend suchten seine Freundschaft und verweilten stets kurz im Foyer, um ein paar freundliche Worte mit ihm zu wechseln. Leo war verschwiegen – und Verschwiegenheit und Anstand kann man beim Portier eines so angesehenen Hotels gar nicht hoch genug schätzen. Wie viele rosa Scheine, ja selbst Fünfundzwanzigrubelnoten mochte er stumm angenommen haben, ohne die geringste Regung in seinem blassen Gesicht, Geldscheine, die ihm die fiebrige Hand eines Mannes zusteckte, der aufgewühlt war von der Vorstellung, hier Unterschlupf für ein Liebesabenteuer zu finden. Die Anzahl von Männern, die das Geheimnis ihrer Glückseligkeit sicher verwahrt sehen wollten, scheint nicht gering gewesen zu sein, denn Leo Davidowitsch besaß immerhin drei Häuser. Daran ist zu erkennen, wie hier das Geld floss, mühelos verdient und freudig mit vollen Händen ausgegeben, und dass das Leben in unserer Stadt feurig war wie die glühenden ländlichen Sommertage in diesem südlichen Regierungsbezirk, dessen Hauptstadt sie war. Wer es in dieser Provinz zu Geld brachte, ob in Bergbau, Industrie oder Landwirtschaft, dachte sehnsüchtig an die unvergesslichen Feste des Hotel London und an die französischen Weine, die er dort noch in Gesellschaft liebenswürdiger Frauen trinken würde.
Eines der drei Häuser von Leo Davidowitsch stand an einer abgelegenen Straße in der Vorstadt, nicht weit von der Landstraße, über die in der Abenddämmerung und nachts schöne Traber, eine Zierde unserer Gegend, im Einspänner Pärchen hinter sich herzogen, die darauf aus waren, in Windeseile über die glatte und gut gepflegte Straße zu huschen. Leo dachte daran, später einmal das Erdgeschoss dieses Hauses zu beziehen. Doch zunächst hatte er nur das obere Stockwerk möbliert und dort eine mürrische alte Frau untergebracht. Zahlreiche Leute hatten angeklopft, ob hier zu vermieten sei, denn Wohnungen waren knapp in der Stadt, die in den vergangenen Jahren außerordentlich rasch gewachsen war. Die Antwort der alten Hexe war stets die gleiche gewesen: Die Wohnung sei reserviert. Doch es kam kein Mieter, und manches schlichte Gemüt fragte sich, warum Leo auf eine vorteilhafte Mieteinnahme verzichtete. Andere zuckten die Achseln. Oft sah man allerdings eine Kutsche vor der Tür des kleinen Hauses anhalten, und obwohl die Gardinen sorgfältig zugezogen waren, fiel noch spät in der Nacht Licht durch die Fenster.
In der frühen Morgenstunde, da diese Erzählung beginnt, in der ersten Dämmerung eines warmen Tages Ende Mai,