Ariane. Claude Anet

Ariane - Claude Anet


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er sein mochte. Da war sie, wie viele ihrer Landsleute, etwas eigen.

      Als Ariane aus Sankt Petersburg kam, war Warwaras Liebhaber ein bekannter Anwalt aus der Nachbarstadt, der zweimal die Woche in der Bezirkshauptstadt zu tun hatte. Dann wohnte er bei Warwara und hatte dort eine Schlafkammer für sich. Später hatte Ariane seinen Nachfolger mitbekommen, einen Ingenieur. Äußerlich wurde stets das Dekorum gewahrt. Doch Warwara Petrowna versäumte nie, ihrer Nichte, die ihre Vertraute geworden war, die Vorzüge, Fehler und Eigenheiten ihrer Liebhaber zu schildern.

      »Da tue ich dir einen großen Gefallen«, sagte sie manchmal, »du wirst dir keine Verrücktheiten in den Kopf setzen. Du wirst die Dinge in ihrem rechten Licht sehen, und später wirst du mir dafür dankbar sein.«

      Doch seit einem Jahr war in Warwaras Leben eine Veränderung eingetreten. Mit Anfang vierzig hatte sie sich in einen Arzt verliebt, dessen gutes Aussehen der ganzen Stadt den Kopf verdreht hatte. Zuerst hatte Warwara Wladimir Iwanowitsch genommen, wie sie viele andere vor ihm genommen hatte. Der Ingenieur war in die Wüste geschickt worden, und Wladimir Iwanowitsch war auf ihn gefolgt. Das erste halbe Jahr war bezaubernd, doch dann merkte Warwara, dass in ihr ein Gefühl entstand, wie sie es nicht gekannt hatte. Es war Liebe. Diese Entdeckung stürzte sie zugleich in Verzweiflung und Begeisterung. Es fühlte sich an wie ein Offenbarungseid ihres ganzen Lebens. Sie kannte sich nicht wieder. Wie ein Mensch, der in einen Sumpf gerät und keinen Boden mehr unter den Füßen hat, wusste sie nicht, woran sie sich festhalten konnte. Und zugleich wurde sie von einem unbekannten Glücksgefühl ergriffen; eine Woge der Freude stieg in ihr auf. Sie begann zu träumen wie ein siebzehnjähriges verliebtes Mädchen.

      »Ach!«, sagte sie zu Ariane, »ich wusste nicht, was Glück ist. Ich hatte achtzehn Liebhaber – was heißt da Liebhaber? Freunde waren sie, nicht mehr. Und jetzt, wo ich vierzig bin, begegne ich Wladimir! Dass er die ganze Zeit in der Nähe lebte und ich ihn nicht kannte … Das kann ich mir nicht verzeihen. Ach! Wenn du wüsstest, was das für ein Mann ist!«

      Sie konnte gar nicht genug bekommen. Das Mädchen hörte ihr schweigend zu, lächelte auch, doch diesmal biss sie sich dabei auf die Unterlippe.

      Doch bald nachdem sie die Liebe kennengelernt hatte, bekam Warwara auch deren Stürme zu spüren. Sie glaubte gemerkt zu haben, dass Wladimir Iwanowitsch nicht mehr die gleichen Gefühle für sie hegte wie zu Beginn.

      Gewiss, sie sahen sich jeden Tag, doch er kam nun zu anderen Tageszeiten als früher, zum Beispiel zum Abendessen, oder abends zum Tee. Manchmal kam er sogar gegen sechs, wenn Warwara gerade ihren täglichen Spaziergang machte. Er blieb nicht lange, wie es anfangs seine Gewohnheit gewesen war. Nur noch selten verbrachte er den Abend in dem kleinen Salon Tür an Tür mit Warwaras Schlafkammer. Sie hatte Mühe, ihn dort hineinzulocken. Lieber blieb er im Esszimmer, wo außer Ariane stets ihre ältere Freundin Olga Dimitriewna saß, die seit langem schon zum Essen zu Warwara kam, und ein paar Freunde des Hauses.

      Um Entschuldigungen war er nicht verlegen: Seine Frau sei vom Land zurückgekommen, sie sei unpässlich, er habe Krankenbesuche zu machen, die Migräne usw.

      Warwara Petrowna war verzweifelt. Diese Frau, die ihre Ehre dreingesetzt hatte, nie um etwas zu bitten, erniedrigte sich, indem sie von ihm Verabredungen erflehte oder wenigstens, dass er noch ein paar Minuten bleibe – und das sogar in Anwesenheit ihrer Nichte und ihrer Freunde.

      Warwara litt Qualen der Eifersucht. Wahrscheinlich hatte Wladimir eine neue Geliebte. Sie begann, ihm nachzuspionieren. Sie horchte ihn aus, dachte nach. Sie beobachtete seine Blicke, registrierte den Tonfall seiner Worte. Sie, die früher nie am Vormittag ausgegangen war, begann in die Stadt zu gehen und hundertmal am Tag vor dem Haus ihres Liebhabers vorbeizukommen. Sie ging so weit, ihn mit der Kutsche zu verfolgen. Aber wie will man herausfinden, was ein Modearzt so alles treibt!

      Sie hatte ihre Heiterkeit verloren, die Sorglosigkeit einer glücklichen Frau, der alles nach Wunsch gelingt und die ihr Leben nur zu leben braucht.

      Als Ariane an jenem Tag von ihrer letzten Prüfung nach Hause kam, saß Warwara noch mit ein paar Freunden am Esstisch, obwohl die Mahlzeit längst zu Ende war.

      »Wie ist es dir gegangen?«

      Noch ehe das Mädchen antworten konnte, ging die Tür auf und herein trat Wladimir Iwanowitsch. Fast schien es, als hätte er Ariane ausspioniert und sich ihr an die Fersen geheftet. Er war ein nervöser Mann, immer auf Trab, auf die fünfzig zugehend, gut rasiert und mit ergrauenden Schläfen. Er hatte die schönsten Zähne auf Erden, und unter seinen borstigen schwarzen Brauen blitzten die lebhaftesten Augen hervor. Aus jeder seiner Bewegungen sprach große Selbstsicherheit. Warwara sprang auf und gab ihm die Hand.

      »Endlich sind Sie da!«, sagte sie.

      Wladimir Iwanowitsch gab Warwara einen kurzen Handkuss, stürzte sich dann aber gleich auf Ariane, die sich nicht gerührt hatte.

      »Ich komme, Ihnen zu gratulieren, Ariane Nikolajewna; von meiner Tochter habe ich gehört, wie triumphal Sie abgeschnitten haben. Nicht dass mich das im Mindesten überraschte.«

      Mit beiden Händen drückte er Ariane die Hand. Sie zog sie heftig zurück. Warwara war das nicht entgangen.

      »Setzen Sie sich doch zu uns, Wladimir Iwanowitsch«, sagte sie, »ich schenke Ihnen Kaffee ein.«

      »Nein, ich habe keine Zeit. Ich muss noch tausend Dinge erledigen.«

      »Trinken Sie doch eine Tasse Kaffee, vorher lasse ich Sie nicht ziehen. Und dann nehmen Sie mich vielleicht mit, damit ich hier ein wenig rauskomme. Heute ist der erste Sommertag. Was hast du heute vor, Ariane?«

      »Ich bleibe bis sieben hier«, erwiderte das Mädchen, »dann kommt Nikolaj mich mit seinem Wagen abholen. Ich lege mich kurz schlafen, ich bin müde.«

      »Ach, fast hätt ich’s vergessen, auf deinem Zimmer liegt ein Brief von deinem Vater.«

      Ariane runzelte die Stirn. Immer wenn von ihrem Vater die Rede war, verfinsterte sich ihre Miene.

      Ein paar Minuten später war das Esszimmer menschenleer.

      III

      Als Ariane in ihr Zimmer kam, sah sie den Brief ihres Vaters mitten auf dem Tisch liegen und erkannte seine akkurate Handschrift. Ein eingeschriebener Brief. Sie zuckte mit den Schultern.

      Bevor sie den Brief las, entkleidete sie sich vollständig und warf das braune Uniformkleid über einen Stuhl. Sie löste ihr dichtes kastanienbraunes Haar, zog einen leichten Morgenmantel über, nahm den Brief und legte sich barfuß aufs Sofa.

      Der Brief begann so:

      »Meine liebe Tochter, in Beantwortung Deines Schreibens vom 10. des Monats« – bei dieser Wendung aus der Geschäftskorrespondenz verzog sie ihr rosiges Gesicht – »setze ich Dich über meine Pläne in Kenntnis. Es ist mir nicht recht, dass Du auf die Universität gehst. Wir haben in Russland schon genug heruntergekommene Frauen. Du bist intelligent, Du sollst Deine Intelligenz in Ehe und Haushalt einsetzen und Deine Kinder großziehen. Ich hoffe sehr, dass Du bald heiratest. Unser Freund Pjotr Borissowitsch, der Dir gewiss noch im Gedächtnis ist, hat die besten Erinnerungen an Dich, und sein lebhaftester Wunsch ist, Dich zu heiraten. Wie Du weißt, ist er ein ernsthafter junger Mann, der Dir ein äußerst angenehmes Leben bieten kann. Außerdem hat er eine erstklassige kaufmännische Anstellung, und ich kann für ihn garantieren wie für mich selbst. Ich fahre nun für einen Monat in den Kaukasus zu einer Badekur. Ich gehe davon aus, Dich danach im September in Sankt Petersburg zu sehen. Wir werden den Herbst in Pawlowsk verbringen, wo Pjotr Borissowitsch ein hübsches Landhaus hat …«

      Vier Seiten lang ging es in diesem Ton weiter.

      Sie konnte nicht weiterlesen. Sie zerknüllte den Brief.

      »Wie widerlich!«, entfuhr es ihr.

      Sie warf den Brief in die Zimmerecke.

      Dann schloss sie die Augen und träumte kurz vor sich hin. Sie sah sich wieder als das achtjährige Kind bei ihrem Paten, dem Fürsten Wiaminski, auf dem Schoß sitzen. Was für ein komischer Kauz! Wie gern


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