Ariane. Claude Anet

Ariane - Claude Anet


Скачать книгу
sie dem geschmeidigen und treffenden Ausdruck von Ariane Nikolajewna folgte. Im Saal waren alle Augen aufs Podium gerichtet.

      »Eine Eins mit Stern«, sagte ein Mädchen.

      »Mit Auszeichnung und Goldmedaille«, murmelte eine andere.

      »Schau dir Pawel Pawlowitsch an«, flüsterte eine Dritte, »er ist in sie verliebt, das sieht man doch.«

      »Das weiß ich schon lange«, sagte ein blasses, ernstes Mädchen.

      Nach fünf Minuten unterbrach Pawel Pawlowitsch Ariane Nikolajewna.

      »Das genügt, Kusnetzowa, vielen Dank.«

      Das Mädchen stieg vom Podium herab. Einer der Prüfer wandte sich zu seinem Kollegen:

      »Wirklich ein begabtes Kind«, sagte er leise.

      Eine Stunde später war die Prüfung zu Ende. Während die Schülerinnen den Saal verließen, blieb Ariane noch da und sprach mit der Direktorin. Die Unterhaltung zog sich in die Länge, nun waren sie allein im Raum. Schließlich neigte sich Madame Znamenskaja in einer Anwandlung von Zärtlichkeit, die das Mädchen verblüffte, ihr zu, gab ihr einen Kuss und sagte:

      »Wohin es Sie auch verschlagen mag, Ariane, vergessen Sie nicht, dass ich Ihre Freundin bin.«

      Dann ließ sie sie allein.

      Im Vorraum warteten zwei Mädchen auf Ariane Nikolajewna. Sie tuschelten mit kleinen, rasch unterdrückten Lachern. Die eine war groß, schmal und blass und bewegte sich ungelenk, die andere war hässlich, mit kleinen Augen und Stupsnase, aber frech und quirlig. Beiden gemeinsam war der schlechte Ruf, den sie genossen; sie trugen öfter Schmuck von zweifelhafter Herkunft, denn sie kamen beide aus armen kleinbürgerlichen Familien. Sie gesellten sich zu Ariane, tätschelten und beglückwünschten sie im Gehen und sagten ihr tausend Schmeicheleien.

      »Hören Sie zu, Ariane«, sagte die Größere von den beiden, »wollen Sie nicht mit uns zu Abend essen? Wir treffen ein paar Leute … Im neuen Landhaus, das Popow gerade gekauft hat …« – dieser Popow war der reichste Händler der Stadt, ein älterer Mann von recht abstoßendem Aussehen –, »er hat das sehr originell eingerichtet. Stellen Sie sich vor, es gibt nicht einen einzigen Stuhl im Haus. Nur Sofas. Das muss man gesehen haben, wirklich!«

      Ganz aufgeregt legte die Kleinere nach.

      »Da gibt es Musiker, die er in einem Nebenraum versteckt: Man hört sie, aber sie sind nicht zu sehen. Und dann hat er etwas total Originelles erfunden. Die Beleuchtung kommt von Kerzenstummeln, die nach und nach, einer nach dem anderen, erlöschen.«

      Ariane fragte:

      »Und wer speist auf den Sofas? Ich möchte nicht neben Popow sitzen.«

      »Freunde von ihm, sehr nette Leute. Warum wollen Sie eigentlich nicht zu Popow? Er ist rasend verliebt in Sie, meine Liebe; er träumt und spricht von nichts anderem als von Ariane Nikolajewna. Sie müssen unbedingt mitkommen.«

      »Nein danke«, sagte Ariane, »Popow ist ein schrecklicher Kerl.«

      »Aber so geistreich! Und wenn Sie ihn erst singen hören … Er ist umwerfend, Sie würden ihn nicht wiedererkennen.«

      »Dann soll er ohne mich singen«, erwiderte Ariane und blieb stehen, »ich werde weder in sein Landhaus noch zu seinen Sofas und seinen Kerzenstummeln kommen, heute nicht und morgen nicht. Richten Sie ihm das von mir aus.«

      »Er wird vor Verzweiflung sterben.«

      »Dann soll er sich mit Wodka trösten.«

      Sie trennte sich von den beiden Mädchen, die ihren Weg fortsetzten, aufgeregt über diese Weigerung und lebhaft miteinander redend.

      Die Größere sagte:

      »Die ziert sich ja ganz schön, wie albern.«

      Und die Kleine:

      »Popow wird sich nicht freuen.«

      Ariane betrat einen winzigen Park, eigentlich eher nur eine Reihe Bäume und Rosenstöcke am Straßenrand. Unruhig ging dort Pawel Pawlowitsch auf und ab. Er war ein sanftes Wesen, behutsam, verträumt, gutherzig, ängstlich, und nun regelrecht erschrocken, sich plötzlich Aug in Auge mit Ariane Nikolajewna wiederzufinden, obwohl sie sich zwei- oder dreimal die Woche nach dem Unterricht in diesem kleinen Park trafen. Doch jedes Mal lähmte Pawel Pawlowitsch eine Gemütsbewegung, dass es ihm fast die Sprache verschlug. Heute, nach dem kurzen Gespräch mit ihren Kameradinnen, wirkte Ariane reizbar, was zur Befangenheit des Lehrers erst recht beitrug. Immerhin brachte er den Mut auf, ihr vorzuschlagen, sich auf eine Bank in der Nähe zu setzen. Sie lehnte ab, sie sei schon sehr verspätet und werde nicht mehr pünktlich zum Mittagessen daheim sein.

      So begleitete er sie, beglückwünschte sie zu ihrer Prüfung und wiederholte den schmeichelhaften Beifall eines der Prüfer: »Wirklich ein begabtes Kind.«

      Ariane, deren Kopf auf ihrem dünnen Hals leicht schwankte, richtete sich auf und brummelte:

      »Kind! Was für eine Unverschämtheit! Ich bin siebzehn.«

      Dann wurde sie wieder still. Auch der Lehrer schwieg verlegen. Sie gingen zügig durch kaum belebte Straßen. Es war schon recht warm, zum ersten Mal in diesem Jahr; so kündigte sich die brütende Sommerhitze des Südens an.

      Sie kamen vor das Haus in der Dworanskajastraße, wo Ariane Nikolajewna wohnte. Pawel Pawlowitsch war blasser als sonst; er nahm sich zusammen und begann einen Satz.

      Ariane unterbrach ihn:

      »Wissen Sie, woran ich gerade denke, Pawel Pawlowitsch? Ich wirke vielleicht besorgt, aber ich bin unglaublich froh. Erraten Sie, warum? Nein? Nun, ich will es Ihnen sagen. Ich denke nur an eines … In ein paar Minuten bin ich in meinem Zimmer. Auf dem Sofa dort finde ich ein schönes weißes Kleid mit irischen Stickereien, und mit Ausschnitt. Und Pascha – kennen Sie Pascha? Sie mag mich, alles was ich tue, ist in ihren Augen gut – Pascha wird weiße Seidenstrümpfe zum Kleid gelegt und neben das Sofa weiße Sandalen gestellt haben. Dann, Pawel Pawlowitsch, werde ich mich von oben bis unten entkleiden, werde diese schreckliche Schuluniform zu Boden werfen, dieses braune Kleid, aus dem ich drei Jahre lang nicht herausgekommen bin. Ich werde darauf tanzen, ich werde darauf herumtrampeln; ich werde Pascha küssen … Nur daran denke ich jetzt. Ich bin frei, frei! Freuen Sie sich mit mir.«

      Sie reichte ihm beide Hände. Pawel Pawlowitsch hörte ihr zu, und in seinem Gesicht zeigten sich widersprüchliche Gefühle. Die Freude des Mädchens, allein schon ihre Stimme konnten ihn berauschen; und doch fühlte er in seinem Inneren eine dumpfe Trauer.

      Schon hatte Ariane ihn verlassen und ging die Treppe hinauf. Auf der Türschwelle drehte sie sich noch einmal um:

      »Wenn Sie nichts Besseres vorhaben, kommen Sie heute zum Abendessen in den Alexanderpark.«

      Sie war verschwunden. Pawel Pawlowitsch stand erstarrt auf dem Bürgersteig.

      II

      Als Ariane hereinkam, saßen in dem großen Esszimmer ein paar Leute an einem langen Tisch, dessen Vorsitz Tante Warwara hatte. Sie war eine Frau in den Vierzigern, mit asymmetrischem Gesicht, in dem einem zuallererst zwei große dunkle Augen auffielen, Augen von solcher Schönheit, die allein schon ausreichten, die gängige Meinung in der Stadt zu rechtfertigen: »Warwara ist eine attraktive Frau.« Sie war auffallend frisiert. Ein Seitenscheitel teilte ihr braunes, leicht gewelltes Haar. Ihr Mund war ebenso fein gezeichnet wie der ihrer Nichte, allerdings hatte sie keine schönen Zähne. Warwara Petrowna wusste das und behalf sich, indem sie mit geschlossenen Lippen lächelte und ihre braunen Augen umso mehr leuchten ließ. »Sie ist unwiderstehlich«, hieß es dann bei ihren Bekannten. Sie war schlank geblieben. »Wenn Tante Warwara auf der Straße vorbeikommt«, sagte Ariane immer, »glauben die Leute, ein junges Mädchen zu sehen.« Sie kleidete sich, auch zu Hause, ohne die geringste Nachlässigkeit – etwas durchaus Seltenes in Russland. Sie trug elegantes Schuhwerk; ihre Hände waren gepflegt, ihre Wäsche vom Feinsten, und außer Haus trug sie jahrein, jahraus ein Kostüm aus schwarzem


Скачать книгу