Ariane. Claude Anet

Ariane - Claude Anet


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Ein junges Mädchen trat auf die Schwelle und blieb einen Augenblick zögernd stehen.

      Sie trug die Uniform des bekanntesten Gymnasiums der Stadt, ein schlichtes braunes Kleid mit schwarzglänzender Schürze. Diese Strenge hatte sie abgemildert durch einen weißen Spitzenkragen, der ein wenig zerknittert wirkte, und das Kleid war entgegen der Vorschrift leicht ausgeschnitten und zeigte die dezente Anmut eines schlanken Halses; darauf wiegte sich in sanfter Bewegung ein kleiner Kopf, auf dem sie einen weißen Strohhut mit breiter Seitenkrempe trug, die von einem unter dem Kinn geknoteten schwarzen Band hochgehalten wurde. Das Mädchen wandte den Kopf nach allen Seiten, um die menschenleere Straße zu begutachten. Nach diesem kurzen Innehalten ging sie den Bürgersteig hinab. Hinter ihr erschien ein zweites Mädchen, ein paar Jahre älter, blond, etwas rundlich und schwerfällig im Gang, einen schwarzen Seidenrock und eine Batistbluse unter einem leichten Übergangsmantel.

      Das Mädchen in Gymnasiastinnenuniform streckte sich, hob das Gesicht zum Himmel, sog die frische Luft tief ein wie ein Glas kühles Wasser und sagte lachend:

      »Was für eine Schande, Olga, es ist schon taghell!«

      »Ich wollte schon längst heimgehen«, sagte sie mürrisch, »ich weiß nicht, warum du so spät dran bist … Wobei, eigentlich weiß ich es doch. Und ich muss um zehn im Büro sein! Petrow, der alte Tyrann, wird mich ausschimpfen. Und ich hab viel zu viel Champagner getrunken …«

      Die Gymnasiastin sah sie mitleidig an, zuckte, wie sie es gern tat, mit der linken Schulter und blieb eine Antwort schuldig. Sie ging mit schnellen Schritten, ließ beschwingt und fröhlich die allzu hohen Absätze ihrer offenen Schuhe klacken, blickte mit freien Sinnen um sich und genoss es, nach einem verrauchten Raum nun die unerwartete Frische des Frühlingsmorgens um sich zu haben. Zusammen überquerten die beiden den großen Domplatz und gingen dann ihrer Wege, nicht ohne sich für den nächsten Abend verabredet zu haben.

      Die Gymnasiastin wollte gerade in eine Straße links vom Dom einbiegen, da hörte sie eilende Schritte hinter sich und drehte sich um. Ein hochgewachsener Schüler in Uniform, Pickel und Hacke mit Goldfaden ins Mützenband gestickt, kam hinter ihr hergelaufen.

      Sie blieb stehen. Ihr Gesicht nahm einen harten Ausdruck an, ihre langen Augenbrauen runzelten sich, so dass der Schüler, der sie unverwandt angesehen hatte, unsicher wurde. Voller Nervosität sagte er:

      »Vergeben Sie mir, Ariane Nikolajewna … ich habe gewartet, bis Sie allein waren … Ich konnte Sie doch nicht so verlassen … Nach allem, was geschehen ist …«

      Mit schneidender Stimme unterbrach sie ihn:

      »Was bitte soll geschehen sein?«

      Die Verunsicherung des jungen Mannes wurde noch größer.

      »Ich weiß nicht …«, stammelte er, »ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll … Ich dachte … Sie nehmen es mir übel? Ich bin verzweifelt … Ich möchte es lieber gleich wissen …« Und, völlig aus der Fassung, schloss er: »So kann man doch nicht weiterleben.«

      »Gar nichts nehme ich Ihnen übel«, erwiderte Ariane Nikolajewna geradeheraus, »merken Sie sich das ein für alle Mal: Ich bereue nie, was ich getan habe. Aber denken Sie auch daran, dass ich Ihnen verboten habe, mich auf der Straße anzusprechen … Oder haben Sie das schon vergessen?«

      Nach einem kurzen Zögern unter den kalten Blicken des Mädchens machte er auf dem Absatz kehrt und ging wortlos weg.

      Ein paar Minuten später stand Ariane Nikolajewna vor einem großen Holzhaus. Im Erdgeschoss befanden sich Geschäfte. Sie stieg ins obere Stockwerk, nahm einen Schlüssel aus der Handtasche und schloss die Tür vorsichtig auf.

      Es war still in der Wohnung, nur das Ticken einer großen Wanduhr im Esszimmer war zu hören. Auf Zehenspitzen durchquerte das Mädchen einen langen Flur und stieß die Tür zu einer Kammer auf, wo auf dem schmalen Bett eine junge Frau schlief, mit offenem Mund, halb angekleidet.

      »Pascha, Pascha«, sagte sie.

      Die Bedienstete schrak aus dem Schlaf hoch und wollte aufstehen.

      »Weck mich um neun«, sagte Ariane und drückte sie zurück aufs Bett, »um neun, verstanden? Am Vormittag habe ich eine Prüfung.«

      »Schon gut, Ariane Nikolajewna, ich werde es nicht vergessen … Aber es ist ja schon hell. Dass Sie so spät heimkommen! Um Gottes willen, passen Sie auf sich auf. Warten Sie, ich komme und entkleide Sie«, setzte sie hinzu und machte noch einen Versuch, aufzustehen.

      »Nein, Pascha, mach dir keine Mühe. Schlaf noch ein wenig. Gott sei Dank kann ich mich selber an- und ausziehen. Bei dem Leben, das ich führe, geht das auch gar nicht anders.« Sie musste lachen.

      Wenig später war alles still in dem großen Haus an der Dworanskajastraße.

      Um zehn Uhr am selben Tag nahmen im angesehenen Gymnasium von Madame Znamenskaja der Geschichtslehrer Pawel Pawlowitsch und zwei weitere Lehrer als Beisitzer die Abschlussprüfung ab.

      In dem hellen und sparsam möblierten Saal mit großer Fensterfront saßen zwei Dutzend Mädchen. Zwischen ihnen flogen Gesprächsfetzen leiser Unterhaltung hin und her, geflüsterte Bemerkungen, kurze, fieberhaft ausgetauschte Sätze. Lebhafte Augen strahlten in blassen Gesichtern; manche Schülerinnen blätterten hastig im Geschichtsbuch, andere verfolgten mit Anteilnahme, was auf dem Podium vor sich ging.

      Das Thema für die fünfminütige mündliche Prüfung wurde ausgelost, und ebenso viel Zeit blieb der jeweils nächsten Kandidatin zum Nachdenken, wofür sie an einem kleinen Tisch nebenan Platz nahm. Während Ariane Nikolajewna wartete, bis sie an der Reihe war, zerknüllte sie das Blatt Papier in der Hand, das sie vor den Augen von Pawel Pawlowitsch gezogen hatte.

      Zwei Stunden Schlaf hatten ausgereicht, um ihr ihre fast kindlich frische Gesichtsfarbe wiederzugeben. Ihre hellgrauen, eher kleinen Augen lagen geschützt unter den lang geschwungenen Brauen, die an der Nasenwurzel fast aufeinandertrafen. Ihre Nase war gerade und ebenmäßig. Der fein gezeichnete Mund war geschlossen. Ariane verlor sich nicht in Gedanken über den Gegenstand, zu dem sie gleich befragt werden würde, sondern hörte der Schülerin zu, die vor den Prüfern stand und nur verlegene Antworten gab. Arianes graue Augen unter den schwarzen Brauen funkelten, und es war zu sehen, wie sehr sie sich zusammennehmen musste, um ihrer Mitschülerin nicht im Flug zu Hilfe zu kommen.

      Eine Aufseherin, die etwas abseits saß, schaute auf ihre Taschenuhr und verließ den Raum. Zwei Minuten später führte sie die Direktorin herein. Die Prüfer beeilten sich, ihr ihren Platz anzubieten. Madame Znamenskaja wehrte mit einer Handbewegung ab und setzte sich etwas weiter hinten auf den Stuhl der Aufseherin.

      Ein Murmeln war durch den Saal gegangen. Die Mädchen kommentierten leise, was sie beobachteten.

      »Da ist sie ja mal wieder.«

      »Sie kommt immer, wenn Ariane dran ist.«

      »Eine Schande! Sie bevorzugt sie.«

      Kaum hatte sich die Direktorin gesetzt, da klopfte Pawel Pawlowitsch schüchtern auf den Tisch und sagte zu der Schülerin:

      »Danke schön.«

      Sie trat vom Podium herab, ging an ihren Platz und barg das zunehmend gerötete Gesicht in ihrem Taschentuch.

      Mit zögernder Stimme rief der Lehrer:

      »Kusnetzowa.«

      Ariane trat vor.

      Mit gesenktem Blick fragte der Lehrer:

      »Welches Thema haben Sie?«

      »›Der Prälat von Nowgorod‹.«

      Und ohne abzuwarten, dass man ihr Fragen stellte, begann Ariane mit ihrem Vortrag. Mit ihrem präzisen Ausdruck versetzte sie die Zuhörer in Erstaunen. Die verwickeltste Angelegenheit wurde klar, wenn sie darüber sprach, der verworrenste Sachverhalt überschaubar. Sie ordnete alles nach Wichtigkeit, verlor sich nicht in Einzelheiten und zeichnete ein erhellendes Gesamtbild, in dem jedes Detail seinen Platz hatte.

      Die Prüfer genossen es, ihr zuzuhören,


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