Eisnächte. Ditte Birkemose

Eisnächte - Ditte Birkemose


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ion> DITTE BIRKEMOSE

      Für Fleming, Christel und Agus

      In dem Moment, in dem die Verstorbene aus der Kirche getragen wurde, setzte das Seelenläuten ein, und es dauerte an, bis der Sarg in der Erde war. Die Tote schaute nach Osten, und nun ertönten die drei mal drei Glockenschläge.

      Von der Erde bist du gekommen

      zur Erde wirst du zurückkehren

      aus der Erde wirst du auferstehen.

      Kamma.

      Dunkle Wolken trieben über den Himmel, ab und zu brach ein Sonnenstrahl hindurch. Der Kies knirschte unter meinen Füßen. Mit einem Gefühl von Unwirklichkeit verließ ich langsam den Friedhof und dachte dabei an sie. An Kamma.

      Sie war zweiundsiebzig gewesen, als wir uns vor fast zehn Jahren in dem Krankenhaus kennengelernt hatten, in dem wir beide behandelt wurden. Miriam, meine Ärztin, hatte einen Knoten in meinem Unterleib entdeckt. Ich war damals ganze Krankenschwester und halbe Theologin und hatte beides satt. Kamma war die Gebärmutter entfernt worden, und die Ärzte hatten ihr von Hormonpräparaten abgeraten. »Kann mein Sexualleben darunter leiden, verliere ich jetzt vielleicht die Lust?«, fragte sie bei der Visite. Und der Arzt antwortete behutsam, das könne man noch nicht sagen, sie müsse einfach abwarten. »Ja, ja«, seufzte Kamma, die damals einen Liebhaber hatte, der fünfzig und Philosoph war. »Dann muss ich mich eben mit der Philosophie begnügen.«

      Ich lächelte und sah sie vor mir. Kamma war ein liebenswürdiger Mensch gewesen, eine suchende Seele mit dem Lebenshunger einer viel jüngeren Frau. Und nicht zuletzt war sie wohlhabend gewesen, also hatte sie ihren Lebenshunger stillen können. Als sie damals ins Krankenhaus musste, war ihr Mann seit neun Jahren tot, und sie hatte »endlich Lebensfreude gefunden«, wie sie es ausdrückte.

      Die Erinnerungen zogen an mir vorbei, und mir fiel ein, dass Kammas guter Freund Carl, der seinerzeit als Chauffeur ihres Mannes gearbeitet hatte, sie oft im Krankenhaus besuchte. In der Regel brachte er einen Korb mit Wein und allerlei Leckerbissen mit, und dann brach in dem Sechsbettzimmer der große Jubel aus. Abends saßen wir in unseren scheußlichen Morgenröcken da und berauschten uns an Schokolade, frechen Witzen und Wein. An einem solchen Abend hatte Kamma plötzlich vorgeschlagen, ich sollte mich als Privatdetektivin etablieren, wie ich es schon oft erwähnt hatte, in leerstehenden Räumen in ihrem Bürohaus in der Smallegade in Frederiksberg. »Über den Preis werden wir uns schon einig«, zwitscherte sie. »Wenn du mir von den spannenden Fällen erzählst, dann kriegst du die Bude für ’nen Apfel und ’n Ei.«

      Und so kam es dann auch. Sowie ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war, machte ich mich an die Einrichtung meines Büros. Nach zwei hektischen Wochen konnte ich das Schild an der Tür anbringen: Kit Sorel, Privatdetektivin, Mitglied im Verband Dänischer Detekteien.

      Die Jahre waren vergangen, viel war geschehen, aber Kamma und ich blieben in Verbindung. In vieler Hinsicht war sie für mich wie eine Mutter gewesen. Deshalb hatte es mich wie ein Schock getroffen, als Carl anrief und von ihrem Tod berichtete. Er hatte sie gefunden, als er ihr im Garten aushelfen sollte. Sie saß im Schlafzimmer ihrer pompösen Villa am Femte Juni Plads, in einem Rüschennachthemd, hatte ihre geliebte Waldkatze Aida auf dem Schoß und war friedlich eingeschlafen.

      Ich holte tief Luft und überquerte die Straße. Mein Blick war von Tränen verschleiert, und ich sagte mir, dass beim Tod nur der Körper verschwand, der Geist war ja niemals sichtbar gewesen. Kamma würde immer in meinen Gedanken sein ...

      Ein gealtertes Puppengesicht, so sah ich sie.

      »Noch Tee?« Sie hob die Teekanne, schaute mich fragend an.

      Ich legte die Hand über die Tasse, schüttelte den Kopf.

      »Nein, danke.«

      Sie ließ die Teekanne sinken und räusperte sich. Ganz offensichtlich fühlte sie sich peinlich berührt. Meine letzte Frage hing noch immer unbeantwortet in der Luft: »Könnte es eine natürliche Erklärung dafür geben, dass Sie seit über einem Monat nichts von Ihrer Tochter gehört haben?«

      »Durchaus nicht«, sagte sie endlich. »Auch, wenn die Polizei das so darzustellen versucht.« Sie wischte sich einen unsichtbaren Fussel vom Jackenärmel. »Wirklich, Julie und ich hatten zwar eine kleine Meinungsverschiedenheit, aber ...«

      »Müssen wir das erwähnen?«, fiel er ihr ins Wort und sah sie aus schweren Augen an. Er war blass vor Sorge und Schlafmangel.

      »Es ist wichtig, dass Sie mir alles erzählen«, sagte ich in meinem pädagogischsten Tonfall.

      »Aber das hatte wirklich keine Bedeutung.« Ein Lächeln huschte ihr über die Lippen und verschwand in einer hilflosen Grimasse. »Es war eigentlich eher so eine Diskussion zwischen Mutter und Tochter.«

      »Hör jetzt auf, Kirsten.« Er seufzte. »Du hast ihr wegen der Abtreibung Vorwürfe gemacht ...«

      »Abtreibung?« Ich hob die Augenbrauen.

      Ein wenig Tee schwappte auf die Untertasse, als sie mit einer heftigen Bewegung die Tasse wegstellte.

      »Das war ein andermal«, erklärte sie. »Und ich finde es einfach übel.« Sie ließ sich auf dem Sofa zurücksinken und schaute hinaus in den Garten. »Ich bin zwar für Abtreibungsfreiheit, aber ich finde auch, dass man zu einem gewissen Zeitpunkt Verantwortung übernehmen sollte.« Ihre Stimme war ein wenig unsicher geworden. Sie räusperte sich und schob ihre Haarspange gerade. »Verstehen Sie, was ich meine?« Sie schaute mich an.

      Wir saßen im Gartenzimmer des Ehepaars Kirsten und Bo Dam Sørensen in einer Villa in Dalby. Am Vortag hatten sie sich an mich gewandt, da sie sich Sorgen machten, weil sie seit etwas über einen Monat nichts mehr von ihrer Tochter Julie, ihrem einzigen Kind, gesehen oder gehört hatten. Sie war nicht in ihrer Wohnung, und die Eltern hatten nicht die geringste Vorstellung, wo in aller Welt sie stecken könnte. Natürlich waren sie längst bei der Polizei gewesen, die offenbar glaubte, dass Julie sicher ihren Freund, einen gewissen Carel, besuchte, der in Amsterdam wohnte, und wenn nicht, dass sie dann wohl beruflich irgendwo im Ausland unterwegs sei.

      Das glaubte das Ehepaar jedoch nicht. Nicht zuletzt, weil Bo vor einer Woche sechzig geworden war, und es sah ihrer Tochter einfach nicht ähnlich, zu diesem Fest nicht zu erscheinen. So war sie nicht. So war sie ganz einfach nicht. Julie war fünfunddreißig und arbeitete als feste freie Fotojournalistin für eine große Kopenhagener Tageszeitung. Und ihren Eltern zufolge war sie eine äußerst pflichtbewusste und verantwortungsvolle Frau. Abgesehen offenbar von der Sache mit der Abtreibung ...

      Ich fing Kirstens Blick ein. »Ja, ich verstehe, was Sie meinen«, sagte ich und streckte die Hand nach meinem Notizblock aus. Es war ein kompliziertes Thema, und ich war nicht hergekommen, um darüber zu diskutieren.

      »Ansonsten haben Julie und ich doch miteinander gesprochen«, räumte Kirsten jetzt ein. »Am Telefon meine ich. Wir sind also nicht zerstritten oder so.«

      »Ihr wart auch im Café«, warf er ein.

      »Ja ...«

      »Weißt du noch, wann das war?«

      »Nein.« Sie kratzte sich nachdenklich am Arm. »Aber ich glaube, es war an einem Sonntag.«

      »Das stimmt«, bestätigte er und streckte die Beine aus. »Es war Sonntag, der Dreizehnte. Ich war nämlich bei einer Versammlung im Golfclub.«

      Ich blätterte in meinem Kalender.

      »Also im Juli?«

      »Ja.«

      Wir schwiegen für einen Moment.

      Ich betrachtete das Foto von Julie. Sie hatte lange blonde Haare, blaue Augen und hohe Wangenknochen. Ich hätte sie nicht unbedingt als Schönheit bezeichnet, aber sie war anziehend. An einer Goldkette um ihren Hals hing ein kleines emailliertes Dagmarkreuz.

      »Das Bild ist vor einem halben Jahr aufgenommen worden«, schaltete Bo sich ein. »Heute hat sie ganz kurze Haare.«

      »Ja?« Kirsten seufzte. »Ich finde das wirklich schade.«

      Ich unterdrückte ein Lächeln. Sie hatte selbst lange blonde Haare, die sie zu einer gewollt achtlosen Frisur fast


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