Eisnächte. Ditte Birkemose

Eisnächte - Ditte Birkemose


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noch irgendwo anders in der Wohnung ein Computer. Vielleicht benutzte sie einen Laptop, und vermutlich hatte sie den mitgenommen. Aber es war auch vorstellbar, dass jemand ihren Rechner entfernt hatte.

      Ich hörte den Anrufbeantworter ab. Es gab insgesamt fünfzehn Mitteilungen, acht davon stammten von Kirsten, die mit immer verzweifelterer Stimme um Rückruf bat, drei stammten von einem Kollegen, Ulrik Ejby aus der Bildredaktion, zwei von einer gewissen Karen Jacobsen, die wissen wollte, ob Julie an einem Seminar zum Thema Fotojournalistik teilnehmen werde, und zwei von David, dem Mann, mit dem sie ihren Eltern zufolge in Grönland gewesen war. Er bat sie, sich sofort zu melden.

      Überall auf ihrem Arbeitstisch lagen Bücher und Papiere herum, und mitten dazwischen entdeckte ich einen Stapel Tarotkarten. Auf den Notizblock, der neben dem Telefon lag, hatte sie einen Namen geschrieben, gefolgt von Ausrufezeichen. Reddington. Das klang nicht gerade dänisch, vielleicht handelte es sich um einen Engländer? Oder einen Amerikaner? Oder eine Stadt? Ich notierte diesen Namen, man konnte doch nie wissen, vielleicht war er wichtig. Dann sah ich die Schubladen durch, fand aber nichts Interessantes.

      Ehe ich das Arbeitszimmer verließ, schaute ich mir die Pinnwand an, die mit allem Möglichen bestückt war, von Ansichtskarten aus den Ferien bis zu Konzertprogrammen. Unten in einer Ecke hing ein gelber Zettel mit der Aufschrift: Karen D. 2. Juli 11. Ich dachte, es könne natürlich ein Termin bei ihrer Zahnärztin sein, aber ich nahm ihn doch von der Pinnwand und steckte ihn in meine Tasche. Ich wollte ihre Eltern fragen, vielleicht wussten die, wer Karen D. war.

      Als ich gerade zur Tür gehen wollte, hörte ich ein Geräusch, das mich erstarren ließ. Jemand machte sich an der Tür zu schaffen. Ich blieb ganz still stehen und lauschte mit angehaltenem Atem.

      Dann klapperte der Briefschlitz und ein Umschlag fiel auf den Boden. Ich lächelte erleichtert und ging weiter zum Schlafzimmer.

      Hier öffnete ich den Kleiderschrank und sah mir ihre Kleider an. Sie trug offenbar meistens Schwarz, und zwar Marke Masai oder Noa Noa, und ihr Parfüm hieß Coco Chanel Mademoiselle. Ich konnte annehmen, dass sie Sinn für Qualität hatte und trotzdem Umweltbewusstsein besaß, denn unten im Schrank fand ich sogenannte ökologische Fußbekleidung. Ein Paar rote Lederstiefel und zwei Paar schwarze Pumps von der Sorte El Natura Lista.

      In der Diele nahm ich die Autoschlüssel vom Schlüsselbrett und lief dann durch die Straße, bis ich den gelben Fiat Cinquecento gefunden hatte. Doch nachdem ich ihn von A bis Z durchsucht hatte, musste ich mir eingestehen, dass er nichts Ungewöhnliches enthielt. Leider.

      Es war kurz nach drei, als ich mich durch das Gewimmel von Menschen, Geschäften, trendigen Cafés und heruntergekommenen Bodegas im Gammel Kongevej bewegte. Vor dem Shawarma-Kiosk stolzierten einige zerrupfte Tauben umher und pickten an einem Stück Brot herum, weiter vorn stand ein älterer Mann mit speckiger schwarzer Jacke und spielte Harmonika. Ein magerer gelber Köter saß zu seinen Füßen und betrachtete die Vorüberkommenden aus gutmütigen Augen.

      Ich blieb vor dem Tabak- und Weinladen stehen. An diesem Tag brauchte ich mir über mein Abendbrot keine Gedanken zu machen, Harry hatte mich zum Essen eingeladen, aber ich wollte ihm eine Flasche richtig guten Rotwein und eine Packung Zigarillos mitbringen. Als ich meine Einkäufe erledigt hatte, ging ich weiter zum Rådhusplads und nahm dort den Bus nach Nærum. Wie immer war der überfüllt, aber ich hatte Glück und konnte mir einen Platz neben einer jüngeren Frau ergattern, die auf der ganzen Fahrt ins Senden und Empfangen von SMS vertieft war.

      Zu Hause rief ich sofort Julies Eltern an, um Bericht zu erstatten. Ich wollte außerdem fragen, ob sie jemanden namens Reddington kannten oder wussten, wer Karen D. sein könnte.

      Aber dort meldete sich niemand. Nach einer Tasse Tee und einer raschen Dusche versuchte ich es noch einmal, ehe ich mit Marie spazieren ging und mich dann zu Harry begab, aber noch immer konnte ich niemanden erreichen.

      »Bestimmt ist sie tot.« Harry bohrte die Gabel in seinen Rollbraten.

      Ich verdrehte die Augen und schluckte eine Kartoffel hinunter. »Was?«

      »Wenn sie zum Geburtstag ihres Vaters nicht aufgetaucht ist, ist sie sicher tot«, sagte er. »Das liegt doch auf der Hand.«

      Ohne Namen zu nennen, hatte ich ihn in groben Zügen über den Fall informiert, und wie immer brachte er seine unverblümte Meinung vor. »Vielleicht hast du recht.« Ich nickte.

      »Natürlich hab ich recht.« Er schaute mich triumphierend an. »Die Frage ist nur, wer es war.« Er schenkte Wein nach. »Aber nach meiner Überzeugung muss doch dieser Typ in den Niederlanden ein aussichtsreicher Kandidat sein.«

      »Ich muss schon sagen.« Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen. »Ja, aber dann ist der Fall doch geklärt.«

      »Ja, ja, lach du nur, aber ...« Er legte eine Pause ein, spitzte die Lippen, wartete einen Moment und presste die Fingerspitzen aneinander. »Menschenhandel«, meinte er endlich mit tiefer Überzeugung.

      »Ich glaube ja nicht direkt ...« Ich hustete und versteckte mein halbes Gesicht hinter meiner Serviette.

      Er trank einen Schluck Wein. »Ich weiß, was du denkst«, sagte er und stellte das Glas weg. »Aber trotzdem machen die das so. Doch, doch ... « Er nickte, und es war deutlich, dass er sich jetzt warm redete. »In der Regel ist es irgendein charmanter Kerl, du weißt schon, so ein richtiger Don Johansen, der versucht, sie ins Ausland zu locken. Wenn das klappt, sind sie verraten und verkauft. Viele landen in irgendeinem arabischen Land, und dann kann man sich ja denken, was für ein Schicksal auf sie wartet. Entsetzlich.« Er schwieg für einen Moment. »Andererseits ... vielleicht ist sie zu alt. Was hast du noch gesagt? Fünfunddreißig?«

      Ich nickte. Angesichts des Themas gab es keinen Grund zu lachen. »Aber hast du nicht gesagt, dass sie tot ist«, wandte ich dann gelassen ein. »Beides kann doch jedenfalls nicht zutreffen?«

      Er sah mich überrascht an. »Da kannst du natürlich recht haben«, gab er widerstrebend zu. »Aber wie gesagt, ist sie wohl zu alt, also glaube ich, wir sollten dabei bleiben, dass sie tot ist.« Er nickte nachdenklich.

      Wir schwiegen beide.

      Harry hatte die Tür seines Wohnwagens offen stehen lassen, und eine frische Brise wehte ins Innere. Marie lag unter dem Tisch und schlief.

      »Möchtest du mehr Fleisch?« Er hielt mir die Schüssel hin.

      »Nein, danke.« Ich lächelte. »Hat aber köstlich geschmeckt.«

      »Ich habe eine Wassermelone gekauft, ich dachte, die könnten wir zum Nachtisch essen.« Er erhob sich mühsam und schleppte sich zum Küchentisch.

      Ich schaute ihm hinterher. Anfangs hatte ich ihn für einen übellaunigen Arsch gehalten. Wann immer wir uns begegnet waren, ob nun im Laden des Campingplatzes oder in der Wäscherei, immer hatte ich freundlich gelächelt, hatte zur Antwort aber nur ein widerwilliges Lächeln erhalten. Aber im Laufe der Zeit, als wir uns näher kennenlernten, konnte man wirklich behaupten, dass er aufgetaut war. Wenn er erst mal in Gang kam, redete er wie ein Wasserfall, und er hatte einfach zu allem eine Meinung. Nichts war zu klein, nichts war zu groß. Und ab und zu war er genial. Denn obwohl er stur und dickköpfig sein konnte, kam es auch vor, dass er mit traumwandlerischer Sicherheit den Nagel auf den Kopf traf.

      »Sag mir einfach Bescheid, wenn du den Wagen leihen möchtest.« Er stellte die Schüssel mit der Wassermelone auf den Tisch.

      »Das ist lieb von dir.« Ich lächelte ihn an. Wenn ich einen Auftrag hatte, nahm ich manchmal, je nach Lage der Dinge, das Wohnmobil oder den Bus, und ab und zu lieh ich mir Harrys Wagen.

      »Das wäre ja noch schöner.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. »Schließlich bist du im Einsatz.«

      Am nächsten Morgen erreichte ich endlich Julies Eltern und konnte Bericht erstatten. Leider kannten sie weder Reddington noch Karen D. Ich sprach mit Kirsten, und als ich den Fremden erwähnte, den die Nachbarin beim Betreten und Verlassen von Julies Wohnung beobachtet hatte, stutzte sie. Ich beschrieb den Mann, so gut ich konnte, aber sie glaubte nicht, ihn zu kennen.

      »Sollten wir damit


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