Eisnächte. Ditte Birkemose
»Das hört sich wirklich seltsam an«, sagte sie.
»Mag sein.« Ich dachte, dass Julie trotz allem fünfunddreißig war und sicher ihr Privatleben hatte, von dem ihre Eltern nichts wussten. Streng genommen kannten sie ja auch den Liebhaber aus Amsterdam nicht.
Als wir unser Gespräch beendet hatten, setzte ich Kaffeewasser auf. Marie wedelte eifrig mit dem Schwanz und setzte sich abwartend neben mich.
»Ja, ja, ich mach ja schon ...«, murmelte ich und öffnete den Kühlschrank.
Jeden Morgen bekam sie ein Käsebrot, das ich in kleine Stücke schnitt. Das war ihr Lieblingsessen. Trotzdem schnupperte sie sorgfältig an jedem Stückchen Brot und überlegte sich die Sache ausführlich, ehe sie entschied, ob sie es essen wollte oder nicht. Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel, und ich setzte mich vor dem Wohnmobil auf einen Stuhl und genoss meinen Kaffee. Es war Freitag, und so langsam tauchten auf dem Platz weitere Autos und Zelte auf. Oft waren das Familien, die ein verlängertes Wochenende in der Natur verbringen wollten, ehe der Sommer vorbei wäre. Etliche kamen aus Kopenhagen, und sonntagabends verschwanden sie dann in der Regel wieder. Harry hasste das »Wochenendpack«, wie er diese Leute verächtlich nannte, aber vor allem ärgerte er als alter Schullehrer sich über die Kinder. »Gott soll mich schützen, die Kinder heutzutage halten sich doch wirklich für den Nabel der Welt«, knurrte er, »so werden sie ja erzogen.« Er selbst war geschieden und hatte einen erwachsenen Sohn, den er niemals traf.
Ich verbrachte den Vormittag vor allem in der Wäscherei. Danach räumte ich auf, und zu den Klängen von Cecilia Bartoli, die »Casta Diva« sang, säuberte ich meine bescheidene Wohnstätte. An sich bin ich kein besonders ordentlicher Mensch, aber meine beengten Verhältnisse zwangen mich einfach dazu, Ordnung zu halten.
Irgendwann schaute Harry herein.
»Ich fahre jetzt in die Stadt«, rief er. »Soll ich dir was mitbringen?«
»Nein, danke.« Ich wrang meinen Wischlappen aus, blies mir eine Locke aus der Stirn und drehte die Musik leiser.
»Was glaubst du, wann du losfahren wirst?«
Ich schaute auf die Uhr. »Nicht vor drei.«
»Na gut. Dann wünsche ich gutes Gelingen.«
»Ja, danke. Ich stelle eine Packung Pedigree auf den Küchentisch.«
Ich war bei einer Aushilfsvermittlung gemeldet und hatte mich für diesen und für die folgenden drei Tage zum Spätdienst in einem Pflegeheim in Lyngby verpflichtet. Das bedeutete einen spürbaren finanziellen Unterschied und verhinderte die roten Zahlen.
Als ich meine Haushaltsarbeiten hinter mich gebracht hatte, machten Marie und ich einen Ausflug nach Hvidtjørnesletten, wo ich mich ins Gras setzte und meine mitgebrachten Butterbrote genoss. Die Sonne spielte zwischen den Zweigen der Bäume, und auf der Lichtung äste eine Herde Sikahirsche.
Wegen der Nachtwachen konnte ich mich meinem Fall erst am Dienstag wieder widmen. Inzwischen hatte ich im Internet David Ballum gefunden. Er wohnte in Kopenhagen, mitten im Herzen der Stadt. Wie viele andere Journalisten führte er einen Blog, wo er allerlei tagesaktuelle Nachrichten kommentierte. Aber seltsamerweise hatte er nichts über seine und Julies Reise nach Grönland geschrieben. Jedenfalls fand ich nichts. Auch nicht, als ich mir die Artikel ansah, die sie, zusammen oder allein, für eine größere Kopenhagener Tageszeitung verfasst hatten.
Vielleicht ist es nicht wichtig, aber ich hatte nicht vergessen, als Julies Eltern, oder jedenfalls ihr Vater, glaubten, nach der Reise bei ihr eine Verhaltensänderung bemerkt zu haben. Nichts konnte ausgeschlossen werden, deshalb rief ich schon am frühen Vormittag bei David Ballum an, um ein Treffen zu vereinbaren. Und ich erwischte ihn offenbar im Bett, denn er klang verschlafen und nicht zuletzt verwirrt, war jedoch ohne Zögern bereit, mich bei sich zu empfangen.
»Übrigens hat Karen auch versucht, sie zu erreichen«, sagte er und räusperte sich.
»Karen?«
»Ja, Karen Jakobsen, eine Fotografin von der Zeitung. Es ging um irgendeinen Kurs.«
Das wusste ich vom Anrufbeantworter her. Zum Ausgleich gab mir das eine gute Gelegenheit zu fragen, ob Julie vielleicht noch andere Frauen namens Karen kannte, aber das wusste er nicht.
»Wir sehen uns, sagen wir ...« Es kam ein Geräusch, das ich für ein ausgiebiges Gähnen hielt. Dann räusperte er sich. »Sagen wir, um zwei?«
Er riss die Tür sperrangelweit auf, musterte mich forschend und trat einen Schritt zurück. Er war barfuß, trug schwarze Jeans und ein weißes T-Shirt.
»Komm rein«, sagte er und reichte mir eine sonnengebräunte Hand. »Ich gehe davon aus, dass du Kit Sorel bist?« Seine Stimme klang freundlich.
Aus der Wohnung strömte der Duft von frischgekochtem Kaffee, und ich hörte gedämpfte Musik. Leonard Cohen.
Ich nickte, reichte ihm meine Karte und stellte fest, dass er mit der Beschreibung, die Julies Nachbarin mir von dem Fremden gemacht hatte, auch nicht annähernd übereinstimmte. David Ballum hatte kurze, ein wenig zerzauste braune Haare, braune Augen, und er trug eine Brille. Ich schätzte ihn auf Mitte vierzig, aber er hatte etwas Jungenhaftes, das es schwer machte, sein Alter zu schätzen.
Er betrachtete meine Karte, rieb sich den Nacken und nickte. »Tja«, er schob sich die Brille mit dem Zeigefinger zurecht. »Und wie kommst du also mit ins Spiel ... Kit Sorel?« Er erwiderte meinen Blick.
»Julies Eltern haben sich an mich gewandt«, erklärte ich. »Weil sie seit über einem Monat verschwunden ist.«
Er nickte wieder, und wenn ich mich nicht sehr irrte, machte er jetzt ein besorgtes Gesicht.
»Setz dich ins Wohnzimmer, dann hole ich Kaffee.« Er wollte schon los, blieb dann aber stehen. »Du trinkst doch hoffentlich welchen?«
»Ja, danke, sehr gern.«
Die abgebeizten Dielen ächzten leise, als ich zu dem schwarzen Ledersofa im Erker ging. Die Tür des Nachbarzimmers war angelehnt, und ich konnte einen Arbeitstisch mit einem eingeschalteten Computer sehen. Dann setzte ich mich und ließ meinen Blick umherwandern. Obwohl das Wohnzimmer etwas kahl wirkte, war es geschmackvoll und nicht zuletzt teuer eingerichtet. An der Wand beim Sofa hing eine PH-Lampe mit bernsteinfarbenem Glas, schräg über mir standen zwei Stühle von Quistgaard, und mitten im Zimmer lag ein echter tiefroter Teppich. Abgesehen von den Bücherregalen und einem klassischen Couchtisch aus Eiche, gab es keine Möbel, ein Stück von der Tür entfernt jedoch stand ein metallblaues Fahrrad Marke Centurion.
David Ballum kam herein, stellte zwei Kaffeegläser auf den Tisch und schenkte ein.
»Nimmst du Milch oder Zucker?«
»Nur Milch. Wenn du welche hast, meine ich ...«
Er verschwand wieder und kehrte gleich darauf mit einem Milchkarton in der Hand zurück.
»Ich war für etwas mehr als einen Monat in Griechenland«, erklärte er und ließ sich in den Sessel sinken. »Deshalb weiß ich nicht gerade viel. Ich bin erst vorgestern nach Hause gekommen.« Er trank einen großen Schluck Kaffee.
»Wann hast du Julie zuletzt gesehen?« Ich streckte die Hand nach der Milch aus.
»Hm, mal überlegen.« Er verschränkte die Hände im Nacken und schaute zur Decke hoch. »Ich war zwei Abende vor meiner Abreise bei ihr. Wir mussten etwas besprechen ...«
Ich nickte und schlug die Beine übereinander. »Und sie hat nichts davon gesagt, dass sie verreisen wollte?«
»Nein. Aber als ich in Griechenland war, hat sie mich angerufen und eine Nachricht hinterlassen, und als ich zurückgerufen habe, hat sie sich nicht gemeldet.«
»Und was hat sie gesagt?«
»Nur, dass ich zurückrufen sollte, mehr nicht.« Er überlegte kurz. »Doch, übrigens ... sie hat mir mitgeteilt, dass sie eine neue Nummer hatte.«
»Weißt du noch ungefähr, an welchem