Eisnächte. Ditte Birkemose
unterdrückte ein Lächeln. Harry trank einen Schluck Wein, nickte wieder und sah nachdenklich aus.
Ich reichte ihm die Schüssel mit dem Kartoffelbrei. »Nimm doch noch was.«
Er hob abwehrend die Hände. »Es gibt selbst bei Bettlern eine Grenze, aber ...« Er schwieg einen Moment, dann zwinkerte er mir zu. »Schmeckt doch einfach zu gut«, sagte er glücklich und klatschte sich einen großen Löffel voll mitten auf den Teller.
Wie immer wollte er wissen, wie mein Tag verlaufen war, und natürlich interessierte er sich vor allem für Julie, aber ich war mit meinen Auskünften ein wenig zurückhaltend gewesen. Trotzdem ließ er das Thema nicht los.
»Es hat also mit Grönland zu tun«, schloss er.
»Wie kommst du denn auf die Idee?«, fragte ich verblüfft.
»Ja, siehst du.« Er lachte gelassen. »Ich weiß doch, dass du dich mit diesem Journalisten treffen wolltest. Ballum, heißt er nicht so? Jedenfalls hast du erzählt, dass er mit Julie in Grönland war. Und dann kann man doch wohl annehmen, dass die Lunte da oben brennt?« Er ließ sich im Sessel zurücksinken und war überaus zufrieden mit sich.
»Was soll ich denn nun antworten?« Ich lächelte resigniert. »Du bist einfach unmöglich, Harry.«
»Aber ich habe vielleicht recht?«
»Vielleicht.«
»Also habe ich recht. Ist sie wieder hochgefahren? Allein?«
Ich ignorierte diese Frage, stand auf und trug Schüssel und Teller zum Spülbecken. »Zum Nachtisch gibt es Eis und Obstsalat«, verkündete ich honigsüß.
Als Harry weg war und ich den Abwasch hinter mich gebracht hatte, ging ich mit Marie los. Wir nahmen den Weg, der an der Eisenbahn entlangführt. Die Luft war feucht und drückend, wie vor einem Gewitter. Am Himmel hingen schwere Wolken, ab und zu kam der Mond hervor und warf einen silbrigen Schimmer über die Landschaft, ansonsten war es stockfinster.
Wir waren seit einer Viertelstunde unterwegs, als Marie plötzlich stehen blieb und anfing zu knurren. Ich schaute auf. Über meinem Kopf rauschten die Flügel eines großen Vogels, der vorüberjagte und als dunkler Schatten hinten im Wald verschwand. Marie riss an der Leine.
»Das ist doch nur ein Vogel«, beruhigte ich sie und streichelte sie.
Wir gingen weiter bis zu dem Zaun, wo der Weg sich vor dem See teilt, dann wurde die Mückenplage zu arg, und wir kehrten um.
Zu Hause machte ich mir eine Tasse Tee, blätterte in Science und fand Arthur Reddingtons Artikel. Ich las ihn sorgfältig. Reddington war offenbar Physiker und angestellt bei einer Firma in den USA, wo er ein großes Projekt leitete. Es ging um die Konstruktion eines von einem Teilchenbeschleuniger betriebenen Thoriumreaktors. Das Projekt wurde zusammen mit einer australischen Gesellschaft entwickelt und würde, so Arthur Reddington, für Jahrtausende CO2-neutrale Energie liefern. Thorium an sich war jedoch nicht spaltbar und sollte deshalb durch Bestrahlung im Reaktor in das spaltbare U-233 umgewandelt werden. Bei diesem Projekt gab es gewisse Probleme, eins davon war die hohe Radioaktivität von U-233. Dennoch betonte Reddington, ein Thoriumreaktor würde unter allen Umständen weitaus weniger Atommüll liefern als ein uranbetriebener. Derzeit sei es jedoch noch nicht möglich, eine laufende Atomkernspaltung mit Thorium beizubehalten. Eine der Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen, wäre die Vermischung von Thorium mit Uran und Plutonium. Aber es gebe andere und bessere Methoden. Ohne zu verraten, von welchen Methoden hier die Rede war, bezeichnete Arthur Reddington seine Forschungsergebnisse als überaus verheißungsvoll und die Zukunft als licht. Dennoch meinte er, man müsse auch die vierte Generation der konventionellen Reaktoren entwickeln, die sogenannten Schnellen Brüter.
Nach einiger Zeit konzentrierten Lesens legte ich die Zeitschrift seufzend beiseite. Ich trank einen Schluck Tee und schaute nachdenklich vor mich hin. Vieles in diesem Artikel war für mich einfach unverständlich. Es handelte sich offenbar um die Entwicklung eines neuen Typs von Atomkraftwerken. Aber was in aller Welt hatte das mit Julie zu tun?
In meiner Überzeugung, einer falschen Fährte gefolgt zu sein, machte ich mich langsam bereit zum Schlafengehen. Ich spülte meine Teetasse unter dem Wasserhahn ab, blies die Teelichter aus und öffnete die Tür des Wohnmobils. Die frische Nachtluft strömte herein, und ich fröstelte. Irgendwo in der Ferne schrie eine Eule, ansonsten war alles still. Ich gähnte, wartete zwei Minuten und schloss dann die Tür.
Ich putzte mir gerade die Zähne, als mir ein Gedanke kam. Grönland! Mir schwebte vor, dass ich irgendetwas über Thoriumfunde in Grönland gelesen hatte. Wenn das zutraf, konnte das der Zusammenhang sein, den ich suchte.
Eifrig klappte ich den Laptop auf, durchforstete das Internet und hatte sofort Glück. In einem Artikel von einem Geologen namens Emil Jessen stand unter anderem, dass die Umgebung des Kvanefjeld bei Narsaq in Südgrönland eins der weltweit größten Thoriumvorkommen aufwies ...
Ich ließ mich im Sessel zurücksinken, während sich in mir das Gefühl ausbreitete, etwas Wichtiges gefunden zu haben. Dann schaute ich auf die Uhr. Es war halb zwei, zu spät, um David anzurufen. Verflixt! Ich hätte ihm nur zu gern meine Überlegungen mitgeteilt, aber das musste warten. Dennoch hatte ich jetzt eine vorläufige Theorie, die in aller Schlichtheit darauf hinauslief, dass es zwischen Julie und Arthur Reddington eine Verbindung gab, deren Schnittpunkt Grönland sein musste.
Mit einem Schlag war alle Müdigkeit aus meinem Körper verschwunden, ich war gelinde gesagt hellwach und schenkte mir deshalb einen beruhigenden Whisky als Schlummertrunk ein. Und zum Gott weiß wievielten Male betrachtete ich Julies Foto. »Wo bist du?«, murmelte ich, aber die himmelblauen Augen gaben mir keine Antwort.
Nach einem weiteren Glas wollte ich nun endlich ins Bett gehen. Ich war mit dem Ertrag des Tages zufrieden. Natürlich hatte ich nicht gerade überwältigend viel gefunden, aber ich war doch einen Schritt weitergekommen. Die ganz große und unbeantwortete Frage war noch immer, weshalb Julie von der Erdoberfläche verschwunden war, aber obwohl ich in gewisser Weise weiterhin im Dunkeln tappte, stand ich doch nicht mehr mit leeren Händen da.
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