Eisnächte. Ditte Birkemose

Eisnächte - Ditte Birkemose


Скачать книгу
mache mich mal schlau ...«

      Ein Wagen mit Dachgepäckträger fuhr langsam vorbei, wir schauten hinterher. Dann stand ich auf und sammelte die leeren Bierflaschen ein. Wind kam auf, und am Horizont hingen dunkle Wolken. »Also«, ich schüttelte mich und streifte die Ärmel meines Pullovers herunter, »ich muss wohl weitermachen im Programm.« Ich seufzte und ließ meinen Blick vom Koffer mit den Wintersachen zu dem Fahrradkorb voller Bücher wandern.

      »Danke für das Bier.« Harry schnitt eine Grimasse und stöhnte.

      Ich sagte nichts. Seit einiger Zeit wurde er von Rückenschmerzen gequält, und ich hatte vergeblich versucht, ihn zu einem Besuch bei einem Chiropraktiker zu bewegen.

      Verdammt! Ich bremste, setzte zurück und las noch einmal das Straßenschild. Doch, es war wirklich Gyvelvænget. Ich wendete, fuhr im Schneckentempo die Straße lang und schaute in die Gärten, bis ich bei einer großen weißen Patriziervilla mit schwarzem Klinkerdach ankam. Auf der Mauer stand Nr. 15, hier musste es also sein. Ich stellte den Motor aus und schaute auf die Uhr. Dann steckte ich mein Handy in die Tasche und stieg aus.

      Aus einem schweren grauen Himmel regnete es in Strömen, und auf dem Bürgersteig hatten sich große Pfützen gebildet.

      Ich öffnete das schmiedeeiserne Tor und lief über den Gartenweg.

      Es war halb fünf Uhr nachmittags. Ich hatte mir Harrys Auto geliehen und befand mich in Vandløse, wo Mette Lundtoft wohnte. Die beiden Frauen kannten sich seit der Grundschule, und Julies Eltern, von denen ich die Adresse hatte, hatten gesagt, sie träfen sich noch immer regelmäßig.

      Mette entpuppte sich als sehr große, sehr schlanke und sehr freundliche Frau, die meine vielen Fragen bereitwillig beantwortete. Als Erstes fielen mir ihre dunklen Haare auf, die sie zu einer superkurzen, ein wenig militanten und nicht zuletzt praktischen Frisur geschnitten hatte, die ihre femininen Züge auf seltsame Weise betonte. Ihre graugrünen Augen hatten einen besorgten Ausdruck, und es war deutlich, dass Julie ihr wichtig war.

      Während sie erzählte, trug ich mit ärgerlichem Seufzen noch ein Minus in mein Notizbuch zu den beiden unbekannten Faktoren, Karen D. und Reddington, ein. Leider hatte Mette nicht die geringste Ahnung, wer sie sein könnten. Ich nippte an meinem Fliederbeersaft, hörte ihr zu und dachte, dass das hier bisher nicht gerade ermutigend sei.

      Der Kleine, ein Knabe von anderthalb mit roten Wangen, heulte los, und Mettes Worte versickerten. Sie schaute mich an, wie um Entschuldigung zu bitten, und nahm ihn auf den Arm.

      »Emma«, rief sie. »Komm doch mal eben ...«

      Ich streichelte die Wange des Kleinen. »Schau mal, wie schön«, sagte ich beschwörend und hielt ihm mein Armband hin. Aber das gefiel ihm nicht. Er brach abermals in durchdringendes Geheul aus und drehte den Kopf weg.

      Jetzt erschien in der Tür zur Wohnküche, in der Mette und ich versuchten, ein Gespräch zu führen, ein schmales, dunkelhaariges Mädchen mit Pferdeschwanz.

      »Würdest du bitte ein bisschen mit Axel spielen?« Mette stand auf. »Nur einen Moment, während ich mit der Dame rede ...« Sie setzte den Kleinen auf eine auf dem Boden liegende Steppdecke und steckte ihm einen Schnuller in den Mund. Aber auch dieser Versuch war zum Scheitern verurteilt. Er spuckte den Schnuller aus und fing wieder herzzerreißend zu weinen an.

      »Also ...« Mette sah sich ratlos um

      »Gib ihm einen Topf und einen Deckel«, schlug das Mädchen vor. »Das hat Vater gestern gemacht.«

      Mette suchte im Küchenschrank, riss einen Topf heraus und nahm aus einer Schublade einen Löffel.

      Endlich verstummte das Weinen. Der Kleine packte den Löffel, schlug damit auf den Boden, jubelte und lachte zufrieden.

      Mette ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. »Wo waren wir doch noch gleich?«, fragte sie und fuhr sich mit den Fingern durch die kurzen Haare.

      »Du hast erzählt, dass du zuletzt mit Julie im Café Europa gefrühstückt hast«, sagte ich.

      »Ach ja.« Sie nickte. »Das war am Freitag vor Mittsommer ...«

      Ich warf einen Blick in den Kalender. »Freitag, der zwanzigste Juni?«

      »Ja.«

      »Und wie ging es ihr da?«

      »Es klingt vielleicht seltsam, aber ...« Mette runzelte die Stirn. »Auf irgendeine Weise wirkte sie verwirrt oder nervös, wenn du verstehst.«

      Ich blickte sie voller Interesse an. »Kannst du das genauer erklären?«

      »Also ...« Mette schlug die Beine übereinander und wippte mit dem Fuß. »Nichts richtig Konkretes, aber sie wechselte die ganze Zeit das Thema, und plötzlich fragte sie nach Aisha, die gerade umgezogen war. Sie wollte ihre neue Adresse ...«

      »Und wer ist Aisha?«

      »Eine Freundin, noch aus Schulzeiten, aber ...« Mette hielt für einen Moment inne. »Weißt du, dass Julie kürzlich eine Abtreibung hatte?«, fragte sie dann.

      »Ja.«

      Sie holte tief Luft. »Der Typ ist einfach ein Arsch.«

      »Meinst du diesen Jazzmusiker, Carel?«

      Sie nickte. »Natürlich hat eine alleinstehende Mutter es nicht leicht, da kann ich sie durchaus verstehen, aber ...«

      »Hätte sie das Kind gern behalten?«

      »Ja, jedenfalls am Anfang ... Aber er wollte nicht.« Mette presste die Lippen aufeinander.

      »Du kannst ihn nicht leiden?«

      »Ich bin ihm ja nie begegnet, aber es ist klar, dass er Julie nicht besonders gut behandelt.« Sie schnaubte verärgert. »Außerdem ist er verheiratet ...«

      Das war mir nun ganz neu, und ich sah sie überrascht an. »Hast du seine Adresse?«

      »Nein, ich weiß nur, dass er Carel heißt.«

      »Wenn ich Julies Eltern richtig verstanden habe, dann hatte er nach Dänemark kommen wollen. Er war zur Geburtstagsfeier ihres Vaters eingeladen.«

      »Das glaube ich erst, wenn ich es sehe.« Sie lachte trocken. »Der lässt sich doch niemals scheiden, egal, was er verspricht. Aber inzwischen sind Julie ja auch ihre Zweifel gekommen ...« Abermals wurde sie von einem durchdringenden Heulen unterbrochen. »Was ist denn jetzt wieder los?«, rief sie genervt.

      »Er will die ganze Zeit die Puppe Anne haben«, erklärte die Kleine. »Und die kriegt er nicht, er reißt ja nur an ihren Haaren ...«

      »Hast du denn keine andere Puppe, die du ihm geben kannst?«

      »Nein. Aber ich kann den Teddy holen ...«

      Es regnete jetzt nicht mehr. Mit dem unangenehmen Gefühl, irgendetwas vergessen zu haben, lief ich im Zickzack zwischen den Pfützen zum Auto. Ich steckte mir ein Stück Nikotinkaugummi in den Mund und dachte, dass ich nun immerhin ein anderes Bild von diesem Jazzmusiker in Amsterdam bekommen hatte. Aber brachte mich das in meinem Fall weiter? Nicht einen Meter.

      Aber dennoch. Auf irgendeine Weise war ich Julie näher gekommen und sah sie so langsam als Mensch. Als Frau. Vielleicht wegen ihrer Beziehung zu Carel und nicht zuletzt wegen seiner Einstellung zur Schwangerschaft. Damit kannte ich mich aus. Ich wusste, was es bedeutet, ein Kind zu erwarten, wenn der Mann absolut nicht will. O ja! Zum Glück hatte ich ausnahmsweise einmal auf meiner Sicht der Dinge beharrt, aber es hatte Wermutstropfen in der Freude gegeben und die Beziehung war zerbrochen. Bei der Geburt hatte er mir einen Strauß blauen Flieder gebracht, aber ich hatte keine Lust mehr auf ihn. Für mich hing offenbar alles zusammen. Ein Mann, der mehr als bereit war, seine Spermien in mich zu ergießen, der aber nicht willens war, die Konsequenzen zu tragen, war in meinen Augen nicht mehr attraktiv. Jedenfalls starb die Erotik.

      Heute bin ich glücklich über meinen Entschluss von damals. Das Kind war Benjamin.

      Als ich mich gerade hinters Lenkrad gesetzt hatte, klingelte mein Telefon. Es war Kirsten, die mit


Скачать книгу