Eisnächte. Ditte Birkemose

Eisnächte - Ditte Birkemose


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Hand forschend über eine Unmenge von alten Mauern gleiten lassen und sorgfältig hinter jedem Grabstein auf den Friedhöfen gesucht, die wir besucht hatten. Aber ab und zu hatte sie mich mit einem vielsagenden Funkeln in den Augen angesehen.

      »Wir müssen wieder herkommen, Oma«, meinte Sigge nach sieben sonnenreichen Tagen. »Du kannst doch davon ausgehen, dass es sich um ein Vermögen handelt.«

      Das war ihm wirklich ernst, und ich versprach sofort, dass wir im nächsten Jahr wieder nach Bornholm fahren würden.

      Julies Wohnung lag im Howitzvej in Frederiksberg, und als ich vor dem roten Klinkerhaus stand und meinen Blick zu den Fenstern im dritten Stock hochwandern ließ, überkam mich wieder diese wachsende Unruhe. Ich suchte in meiner Tasche und zog die Schlüssel hervor.

      Die Haustür fiel mit einem leisen Klicken hinter mir ins Schloss, und der Verkehrslärm verschwand in der Ferne. Im Treppenhaus duftete es nach frischem Brot vom Bäcker nebenan, auf dem Boden vor dem Schwarzen Brett hatte ein fauler Zeitungsbote die Lokalzeitung und einen Stapel knallbunter Werbung hinterlassen, und aus einer Wohnung drang Opernmusik. Ich hörte ein wenig zu, fühlte mich fremd. Dann stieg ich zögernd die Treppe hinauf.

      Die Wände waren in einem seltsamen Blauton gestrichen, und die Treppenstufen waren frisch lackiert. In einem Fenster, an dem ich vorbeikam, hatte ein Hausbewohner mit grünem Finger eine große Pelargonie in einem Tontopf aufgestellt.

      Ich blieb stehen, fingerte am Schlüssel herum und sah den Aufkleber »Bitte keine Werbung«. Darunter stand auf einem Messingschild Julie Dam Sørensen in geschwungenen Buchstaben. Als ich nach der Klinke griff, wurde die Tür der Nachbarwohnung geöffnet und eine schmächtige grauhaarige Frau kam zum Vorschein. Sie trug ein weißes Seidentuch um den Hals, dazu eine rote Jacke, und sie hielt eine Tasche und eine Stofftüte mit einem Supermarktaufdruck in der Hand.

      Ich lächelte ihr zu. Sie nickte, kniff die Augen zusammen und musterte mich neugierig.

      »Sie sind vielleicht mit Julie verwandt?«, wollte sie wissen.

      Nach blitzschnellem Überlegen entschied ich mich für die Wahrheit.

      »Nein«, sagte ich. »Ihre Eltern haben sich an mich gewandt, weil sie nicht verstehen können, wo sie steckt. Sie haben mir den Wohnungsschlüssel gegeben.«

      Sie hob die Augenbrauen und nickte. »Ach so.«

      Zwei Sekunden lang, während ihre eisblauen Augen mich abschätzten, sagte keine von uns etwas.

      »Ich hab mich ja auch schon gefragt ...«, begann sie, verstummte dann aber. Sie schien zu zögern. »Wenn Julie sonst für längere Zeit verreist, gieße ich immer ihre Blumen«, fuhr sie fort. »Aber diesmal hat sie kein Wort gesagt. Plötzlich war sie einfach weg, und ehrlich gesagt, verstehe ich das nicht. Sie erwartete doch Besuch und bat mich, einen Kalbsbraten für sie aufzubewahren, weil ihr Kühlschrank voll war. Ich habe erst nach zwei Tagen begriffen, dass sie nicht da war.« Sie runzelte die Stirn. »Aber ihr Freund muss doch wissen, wo sie steckt. Haben ihre Eltern nicht mit ihm gesprochen?«

      »Ihr Freund?« Ich sah sie überrascht an. »Kennen Sie den?«

      »Er war vor ein paar Wochen hier«, sagte sie und überlegte. »Ich weiß nicht mehr, an welchem Tag, aber im Fernsehen war gerade Hammerslag, als ich ihn gehört habe.« Sie senkte die Stimme und trat einen Schritt näher. »Ja, ich gehe davon aus, dass das ihr Freund war.«

      Ich sah ihren Blick, ahnte ein listiges Funkeln in den blauen Augen.

      »Wieso glauben Sie das?«, hakte ich nach. »Hat er irgendetwas gesagt?«

      »Nein, aber sonst hätte er doch keinen Schlüssel zu ihrer Wohnung gehabt.« Sie zog ihr Seidentuch gerade. »Oder?«

      »Ihr Freund wohnt in Amsterdam«, erwähnte ich. »Aber er kann es trotzdem gewesen sein. Haben Sie mit ihm gesprochen?«

      Sie schüttelte den Kopf und starrte vor sich hin. »Ich hab’s ja geahnt.« Sie hob die Schultern. »Er hatte etwas Verstohlenes«, sagte sie langsam und verzog den Mund.

      Ich sah sie an. »Etwas Verstohlenes?«

      »Ja, also ... sowie er mich entdeckt hatte, verschwand er in der Wohnung und knallte die Tür zu, damit ich ihn nicht sehen könnte. Das war jedenfalls mein Eindruck«, fügte sie hinzu.

      »Haben Sie mitbekommen, wann er gegangen ist?«

      »Leider nein«, erwiderte sie bedauernd. »Meine Tochter hatte gerade angerufen ...«

      Ich musterte sie nachdenklich. Obwohl sie sich anfangs so angehört hatte, als halte sie den Unbekannten ganz selbstverständlich für Julies Freund, wurde deutlich, dass sie die ganze Zeit das Gefühl gehabt haben musste, dass etwas nicht stimmte. Mir ging es genauso. Aus irgendeinem Grund glaubte ich nicht eine Sekunde lang, dass es Carel gewesen sein könnte. Das hätte einfach keinen Sinn ergeben. Denn wenn Carel sich in Dänemark aufhielt, dann doch wohl, um Julie zu besuchen, und die war offenbar wie vom Erdboden verschluckt. Aber wer konnte dieser Mann dann sein?

      »Können Sie ihn beschreiben?«, fragte ich.

      »Ach, mal überlegen ...« Sie hob die Hand an den Mund und schaute nachdenklich vor sich hin.

      Ich wartete.

      »Eigentlich sah er ziemlich gut aus«, sagte sie schließlich. »Also gepflegt und so. Nicht wie ein Krimineller.«

      Ich unterdrückte ein Lächeln.

      »Er trug eine braune Wildlederjacke und ein weißes Hemd.«

      »Und welche Haarfarbe hatte er?«

      »Blond. Er hatte halblange blonde Haare und einen Schnurrbart, und ich würde ihn auf Ende dreißig schätzen.«

      »Ja.« Ich nickte. »Und wann haben Sie Julie zuletzt gesehen? Können Sie sich noch erinnern?«

      »Das ist lange her, über einen Monat, glaube ich. Jedenfalls weiß ich, dass es Mittwoch war, ich hatte meinen Bridge-Abend. Es war fast Mitternacht, die Gäste waren gerade gegangen, und da sah ich ihren kleinen gelben Fiat vorfahren.« Sie verstummte abrupt, denn weiter unten im Treppenhaus fiel eine Tür ins Schloss. Dann hörten wir eilige Schritte.

      »Wer sind Sie eigentlich?«, fragte sie plötzlich und sah mich fragend an. »Sind Sie von der Polizei oder so?«

      Ich öffnete meine Tasche, nahm meine Karte heraus und reichte sie ihr. »Wenn Sie irgendetwas Ungewöhnliches sehen oder hören, dann rufen Sie mich bitte an.«

      Sie schaute auf die Karte und nickte.

      Auf der Fußmatte lagen zwei Postkarten, die eine aus Ägypten, die andere aus Berlin. Aber es waren in aller Eile hingekritzelte Feriengrüße ohne wirkliches Interesse. Als ich sie gelesen hatte, sah ich mich in der Diele um, wo allerlei Fotos an den Wänden hingen. Unter anderem gab es eine lange Reihe von Bildern eines dunkelhaarigen Mannes mit Vollbart. Auf mehreren davon spielte er Saxophon. Ich dachte mir, dass müsse ihr Liebhaber sein, der Jazzmusiker Carel, was ein Foto, das am Spiegel steckte, mir dann auch bestätigte. Hier stand er nämlich vor einer Kneipe und umarmte eine lächelnde Julie.

      In der Küche roch es gar nicht gut. Über dem Wasserhahn hing ein vertrockneter Lappen, und neben dem Spülbecken standen Teller mit eingetrockneten Essensresten. Als Letztes hatte Julie offenbar eine Art Bauernfrühstück verzehrt, denn auf dem Herd stand eine Bratpfanne, die mit etwas gefüllt war, was ich für verschimmelte Kartoffeln hielt.

      Die Wohnung war hell und schön eingerichtet, in einer Mischung aus alten und neuen Dingen. Boden und Türen waren abgebeizt und die Wände weiß, bis auf die hintere Querwand im Wohnzimmer, die in einem warmen Blauton gestrichen war. Ich ließ meinen Blick schweifen. Auch wenn es nicht unordentlich war, so war ich doch sicher, dass jemand die Wohnung durchsucht hatte. Dieser Jemand war diskret vorgegangen, aber es gab kleine und scheinbar unwichtige Dinge, die es mir verrieten. Eine halb offene Schublade, ein Stück Papier auf dem Boden, ein Sofakissen, das nicht an der richtigen Stelle lag. Und natürlich wanderten meine Gedanken immer wieder zu dem geheimnisvollen Fremden. Natürlich musste er


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