TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller. Группа авторов
zu reduzieren. So werden Mitarbeiter der Securitate durch charakteristische Details, etwa die Schalen der gekauten Kürbiskerne, die von ihrer Anwesenheit künden, charakterisiert (»Der Fuchs …«), zugleich ist das Kürbiskernkauen so verbreitet, dass es als Indiz keine Eindeutigkeit beanspruchen und der verunsicherten Adina keine letzte Gewissheit gewährleisten kann. Ähnlich funktioniert das Motiv des weißen Hemdes oder des Anzugs: Die Kleidungsstücke markieren die Differenz der Securitate-Offiziere im Innendienst zu Arbeitern, Bauern, Mechanikern oder Studenten – insofern machen sie sie unterscheidbar. Zugleich sind sie aber formelle Kleidungsstücke und charakterisieren verschiedenste Berufe und in ihrem Uniformen-Charakter taugen sie kaum dazu, ein Individuum zu identifizieren (s. u.).
Alle Protagonistinnen der Romane geraten mittelbar über ästhetische Erfahrungen (der Wirklichkeit, der Sprache, Musik oder Literatur) oder ihren Ausreisewunsch in das Visier der Securitate und leiden darunter, dass ihre Wohnungen in ihrer Abwesenheit durchsucht (»Der Fuchs …«), ihre Freunde überwacht und befragt (»Herztier«) oder sie selbst zu Verhören einbestellt werden (»Heute wär ich mir …«). In ihrer Einschüchterung und Angst, die sie misstrauisch machen und isolieren, wähnen sie sich zeitweise im Einklang mit wenigen gleichaltrigen Freunden, Geliebten oder Vertrauenspersonen, die dann entweder durch Mord, Selbstmord oder ungeklärte Unfälle zu Tode kommen oder, schlimmer, durch Verrat die Freundschaften und Liebesbeziehungen unterminieren, das Vertrauen vergiften und die Erzählerinnen auf sich selbst zurückwerfen beziehungsweise drohen, sie an sich irre werden zu lassen – »ha, ha, nicht irr werden«,17 sind die letzten Worte der Ich-Erzählerin am Ende von »Heute wär ich mir lieber nicht begegnet«, nachdem sie Zeichen entdeckt hat, die keinen anderen Schluss zulassen, als dass ihr Mann Paul sie an die Securitate verraten hat. Die kaum mehr mögliche Hoffnung, dass es sich um einen Irrtum oder eine Fehlwahrnehmung handeln könnte, wäre nur um den Preis möglich, das Vertrauen in die eigene Weltwahrnehmung zu verlieren und sich Paranoia zu attestieren, sodass Ich-Verlust und Liebesverrat für die Protagonistin zynische, weil gleichermaßen selbstzerstörerische Alternativen darstellen. Der Verrat kennt nur Opfer und der/die Verratene verliert mehr als nur den Geliebten oder die Freundin.
Die makaber zerstörerischen Gefühlsverwirrungen, die mit dieser Grunderfahrung einhergehen, illustriert der Roman »Herztier«, wenn er Verrat und Tod gleichsam miteinander um die Schmerz-Dominanz konkurrieren lässt: Der Roman präludiert schon im vorangestellten Gedicht des rumänischen Surrealisten Gellu Naum das Thema Freundschaft und führt dann vor, dass menschliche Zuwendung und loyale Verbundenheit als ›unseriöser‹ emotionaler Luxus und gefährliche Selbsttäuschung gelten müssen in einer Welt, die den Einzelnen isoliert und Vertrauen zu einem Überlebensrisiko macht: »jeder hatte einen Freund in jedem Stückchen Wolke / so ist das halt mit Freunden wo die Welt voll Schrecken ist / auch meine Mutter sagte das ist ganz normal / Freunde kommen nicht in Frage / denk an seriöse Dinge«.18
Das Gedicht und seine politische Brisanz werden zum Anlass und Gegenstand mehrerer Verhöre der Hauptfiguren durch einen Hauptmann der Securitate; das Freundschaftsgedicht und sein Sujet sind aber auch insofern Leitmotiv des Romans, als die Berechtigung der mütterlichen Warnung in unterschiedlichen, allesamt im Wortsinn fatalen Figuren- und Beziehungskonstellationen von Freundschaft durchgespielt werden: Vier aus deutschstämmigen Dörfern und Kleinstädten stammende Student*innen, die Ich-Erzählerin und ihre Freunde Edgar, Georg und Kurt, finden nach dem Selbstmord der Zimmergenossin Lola deren Tagebuch, versteckt im Koffer der Ich-Erzählerin. Durch die Lektüre verstehen sie im Nachhinein den ärmlichen familiären Hintergrund der jungen Frau als Motiv für ihr Aufstiegsstreben und ihre wechselnden Männerbekanntschaften, darunter auch ein privilegiertes Parteimitglied, ein Mann, dessen »weißes Hemd«19 als eines der Müller-typischen Ding-Symbol-Indizien funktioniert (s. u.) und schon auf die Schuld des Mannes – er schwängert Lola und zeigt sie beim Lehrstuhl an, als sie ihm zu nahezukommen droht – vorausweist ebenso wie darauf, dass er sich seiner Verantwortung und jeder Verfolgung entziehen kann.20 Die nachträgliche Solidarität der Protagonistin mit Lola geht mit politischer Verunsicherung einher – zuvor hatte die Erzählerin noch dem posthumen Parteiausschluss der Selbstmörderin zugestimmt – und macht die zuvor Unauffällige der Securitate verdächtig, ebenso wie die drei Freunde. Die weiteren Lebenswege der vier Protagonisten als Lehrer auf dem Land, Ingenieur in einer städtischen Fabrik und Übersetzerin sowie ihre jeweiligen Bedrängnisse, Beschimpfungen und Repressionen, die in Entlassung, Ausreiseanträge, rätselhafte Tode im Ausland und zweifelhafte Selbsttötung vor der Ausreise münden, variieren die prekäre Gefährdung von Freundschaft unter den Bedingungen der Diktatur. Verdichtet wird diese Erfahrung in ihrer emotionalen Widersprüchlichkeit in einer ebenfalls fatalen Frauenfreundschaftskonstellation, als die Ich-Erzählerin, inzwischen Übersetzerin in einer Fabrik, ihre dort gewonnene Freundin Tereza, Tochter eines angesehenen Parteimitglieds, verliert – durch deren Krebstod und deren Verrat. Beides wird durch den Geheimdienst so miteinander verquickt – der Kranken wird Zugang zu einer besseren Therapie versprochen, wenn sie den Wohnungsschlüssel der inzwischen in den Westen ausgereisten Freundin bei einem dortigen Besuch kopiert –, dass der Tod, der die Vergeblichkeit des Freundschaftsopfers besiegelt, die Verräterin selbst zum mehrfachen Opfer macht: zum Opfer der Krankheit, der falschen Hoffnungen, der Versprechungen und Drohungen der Securitate und der Enttäuschung der verratenen Freundin. Die Erzählstimme vollzieht diese Überblendung nach, indem sie den tödlichen Tumor als ›Nuss‹, in und mit der der Verrat wächst, konkretisiert: »Die Nuß wuchs gegen uns. Gegen alle Liebe. Sie war bereit zum Verrat, gefühllos für die Schuld. Sie fraß unsere Freundschaft, bevor Tereza an ihr starb.«21
Die Trauer um die Tote wiederum wird kontaminiert von der Enttäuschung der Erzählerin, verraten worden zu sein; die Möglichkeit sich zu distanzieren oder (mit Verachtung) abzuwenden, wird durch die endgültige Abwendung der Freundin im Tod verunmöglicht, das moralische Urteil über sie durch das Mitgefühl mit ihrem Leiden und die Trauer über ihren Verlust durchsetzt. Insofern wirkt der Verrat zerstörerischer als der Tod, weil er nicht nur Verlust bedeutet, sondern nachträglich auch die Integrität der Freundin, die Freundschaft als Wert und die Urteilsfähigkeit der Verratenen infrage stellt oder auslöscht, und so sogar die Pietät der Trauer vergiftet.
Auch andere Konstellationen von Verrat durch Geliebte, Ehepartner und Freunde insistieren auf der Ambivalenz, einerseits als Verunsicherung, wem zu trauen ist und wie die Wirklichkeit zu verstehen ist. Diese hat, unter den Vorzeichen der Diktatur, längst die Unschuld des reinen und kontingenten So-Seins verloren und ist, als Zivilisation wie als Natur, nur noch als Zeichensystem zu deuten; wer in ihr überleben will, muss in ständiger Wachsamkeit Pappeln (in »Der Fuchs …«) ebenso ›lesen‹ wie Blicke und Spuren fremden Eindringens in die eigene Wohnung. Insofern kennzeichnet Ambivalenz nicht nur die Außenwelt respektive deren Wahrnehmung, sondern andererseits auch die Individuen und deren Fähigkeit zu vertrauen. Freundschaft wie Vertrauen erscheinen angesichts der Erfahrungen eher eine Gunst auf Zeit als eine verlässliche Zukunftsperspektive. Das betrifft nicht nur die Freunde, Liebhaber oder Ehepartner, sondern zentral die Erzählerinnen selbst, deren Fähigkeit zu vertrauen grundsätzlich unterminiert wird. Wie gefeit sie ihrerseits davor sind, Verrat zu begehen, ist eine in der Narration stetig mitlaufende Frage, und der vermutlich aus einem abgewandelten Sprichwort entstandene Romantitel »Der Fuchs war damals schon der Jäger« zitiert nicht nur die Doppelgesichtigkeit von (vermeintlicher) Beute und Jäger, sondern verweist auch auf Tradition oder Naturgesetzlichkeit dieses Umstands und die Dauer der Täuschung. Alle Ceauşescu-Romane thematisieren die Täuschung und die Gefahr des Verrats so latent implizit wie strukturell omnipräsent: In »Der Fuchs …« wird ein Fuchsfell in der Wohnung der Erzählerin in ihrer Abwesenheit immer weiter zerschnitten, um sie einzuschüchtern; in »Herztier« illustrieren die Lebenswege der vier Hauptfiguren, die durch die gemeinsame Lektüre des Tagebuchs einer Selbstmörderin in ihrer Haltung gegenüber dem Staat verbunden sind, die zerstörerische Macht der Securitate für die Biografie der Einzelnen und für den Bestand der Freundschaft.