TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller. Группа авторов
H. 155 (2002), S. 39–48. — 33 Müller: »Inge«, a. a. O. S. 27. — 34 Müller: »Der Teufel sitzt im Spiegel«, a. a. O., S. 43. — 35 Müller: »Inge«, a. a. O. S. 30. — 36 Müller: »In jeder Sprache sitzen andere Augen«, a. a. O., S. 12. Die Formulierung erinnert an Ingeborg Bachmanns Trilogie »Todesarten«. — 37 Müller: »Inge«, a. a. O., S. 30 — 38 Ebd. — 39 Müller: »In jeder Sprache sitzen andere Augen«, a. a. O., S. 12. — 40 Redaktion: »Im Dienste des edelsten Ideals der Partei«, a. a. O., S. 6. — 41 Ebd. — 42 Ebd. — 43 Valentina Glajar: »Essays«, in: Eke (Hg.): »Herta Müller Handbuch«, a. a. O., S. 91–101, hier S. 98. — 44 Wilhelm Solms: »Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur«, in: Ders. (Hg.): »Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur«, Marburg 1990, S. 19. Der Band enthält auch einige Paralipomena aus »Niederungen«. — 45 Vgl. Anja Johannsen: »Chronotopologische Ordnungen (Raum und Zeit)«, in: Eke (Hg.): »Herta Müller Handbuch«, S. 167–176, hier S. 171.
Alexandra Pontzen
Herta Müllers Romane sind eigenartig und unverwechselbar. Die Autorin gewinnt dem Roman ästhetische Reize und sprachliche Qualitäten ab (oder fügt sie ihm hinzu), die traditionell nicht mit dem Genre verbunden werden, im Gegenteil. Unter Gesichtspunkten traditioneller Romanpoetik scheinen die Texte das Genre zu verfehlen: Weder sind Müllers Romane ›episch‹, indem sie ausführlich, wort- und detailreich ausholend weite historische, geografische oder biografische Bögen schlagen, noch sind sie ›narrativ‹, indem sie großformatige Tableaus oder Panoramen zeichnen, atmosphärisch eine Behaglichkeit des Erzählens mit sich führen oder dazu einladen, sich lesend zurückzulehnen beim Eintauchen in eine fremde Welt, geführt von einem kundigen Erzähler.
Die Erzählstimme in Herta Müllers Romanen ist eher lakonisch als eloquent, ihre Sätze sind nicht nur kurz, sondern leben von den Aussparungen, dem Nicht-Gesagten, Mitgedachten oder in einzelnen Wörtern, Wendungen und Motiven Implizierten. Ähnlich wie sonst in der Lyrik muss den Sätzen nachgedacht, müssen einzelne Bilder hin- und hergewendet werden, ist das Netz der impliziten Bezüge so eng geknüpft, dass ihre Rekonstruktion die Dynamik der Handlung ersetzt. Nicht weil nichts passierte, sondern weil die eigentliche Wucht der meist bedrückenden oder erschreckenden Geschehnisse im Text nicht mimetisch abgebildet oder expliziert wird, sondern erst im Akt der Entschlüsselung und Reflexion durch die Rezipienten/Lesenden auf diese einwirkt. Schrecken werden nicht unmittelbar dargestellt, sondern mittelbar, etwa über den Blick auf ihre Effekte, evoziert und wirken als eigene Verstehens- und Vorstellungsleistung im Lesenden umso intensiver nach.
Ähnlich wie in der Realität die Bedeutung schlechter Nachrichten die Betroffenen erst zeitversetzt erreicht, weil das Bewusstsein sich erst einmal weigert, sie zu glauben, baut Müllers Sprache, die immer auf Konkretes abzuzielen scheint und zugleich im Metaphorischen Anderes, Größeres, Unfassbares aufruft, einen Faktor der Verständnisverzögerung ein. Er intensiviert die Lektüre und verlangsamt sie zugleich und schafft damit ein eigenes Zeitgefühl, in dem Erwartungsspannung und Wahrnehmungsdehnung sich zu einem eigentümlichen Bewusstsein ›gefühlter Zeit‹ verbinden. Dieser Lektüreeffekt spiegelt zugleich eine atmosphärische Qualität der dargestellten Welt beziehungsweise ihrer Empfindung durch die Figuren wider; zwischen ›bleierner‹ Gegenwart, schmerzlicher Gegenwärtigkeit in Augenblicken aufblitzender Erkenntnis, zeitloser Vergänglichkeit und zyklischer Wiederkehr des Altbekannten bewegen sich die Zeiterfahrungen der Figuren. Sie werden alle unmittelbar bedingt durch die Lebensbedingungen in der Diktatur, deren zeitpolitisches Regime diktiert das öffentliche Leben (der Ernteeinsätze, Heizperioden, Feiertage) und die individuelle Alltagstaktung, durch das Warten auf eine Ausreisegenehmigung oder die Einbestellung zum Verhör: »Ich bin bestellt. Donnerstag Punkt zehn. Ich werde immer öfter bestellt: Dienstag Punkt zehn, Samstag Punkt zehn, Mittwoch oder Montag. Als wären Jahre eine Woche, mich wundert schon, daß es dabei nach dem späten Sommer bald wieder Winter wird.«1
Die spezifische ›ästhetische Eigenzeit‹ von Ceauşescus Rumänien und seiner Darstellung bei Müller grundiert das Lesen ebenso wie das Gelesene und durchwirkt Müllers Romane; auch wenn Personal, Schauplätze und jeweilige Handlungen sich unterscheiden, so erkennt man sie doch als Evokationen ein- und derselben Welt beziehungsweise als spezifische Sicht- und Erlebensweise, die sich im unverwechselbaren Blick und einer eigenständigen Erzählstimme mitteilt. Blick und Stimme sind fraglos von dem Gesehenen und zu Erzählenden geprägt, markiert und vielleicht auch versehrt; aber sie vermögen es ihrerseits, dem Erlebten und seiner Erzählung ihre Prägung zu geben. Sie wirkt fort – wer durch die Schule der Müller’schen Texte gegangen ist, wird Wirklichkeit unweigerlich anders sehen. Das rückt die Autorin in die Nähe von Peter Handke, Wilhelm Genazino oder W. G. Sebald, Autoren, die vorderhand andere Themen, Plotstrukturen und narrative Formen nutzen, deren wahrnehmungsbasierte Poetik aber ebenso über die Textlektüre hinauswirkt und dazu beiträgt, dass die Autoren durch ihren werkübergreifenden Autorstil Leser*innengemeinschaften haben – wie es auch bei Herta Müller der Fall ist.
Im Zentrum von Müllers Romanwerk stehen drei Romane: »Der Fuchs war damals schon der Jäger« (1992)2, »Herztier« (1994)3 und »Heute wäre ich mir lieber nicht begegnet« (1997). Sie erschienen in den 1990er Jahren nach der Übersiedlung der Autorin in die BRD (1987) und nach dem Sturz Ceauşescus (1989) in kurzer Folge innerhalb von fünf Jahren. Die Werke verbindet der thematische Fokus auf Ort und Zeit der Ceauşescu-Diktatur in Rumänien sowie das autofiktionale Spannungsverhältnis der Stoffe zu Ereignissen im Leben der Autorin.4 Stärker als Thema, politisch-historischer Kontext und Entstehungsumstände eint die Texte indes die intensive und unmittelbare Bildhaftigkeit, die »spezifische poetisch-stilistische Technik«5 des Erzählens. Sie bewirkt unter anderem, dass Ereignisse als Erfahrungen, Stimmungen als Wahrnehmungen und Wirklichkeit, auch die brutalste und bedrängendste, als fantastisch beseelte Blickerwiderung der Realität auf ihren Betrachter in Erscheinung treten. Das gibt der Bedrohung und Überwachung durch die Securitate, den Erfahrungen von Hunger, Mangel und Enge, der Enttäuschung und dem Verrat durch Freunde eine über den konkreten Einzelfall hinausweisende existenziell beunruhigende, unheimliche Tiefe; und es zeigt die Sprache des erzählenden Ichs zugleich auf der Höhe ihrer Ausdrucks- und Handlungsmacht – als Souverän einer Fantasie, die paradoxerweise beides sein kann: Gegenpart und Katalysator der Brutalität der Außenwelt, Erkenntnisinstrument und Waffe der Erzählstimme. Sie richtet sich auch gegen sie selbst, denn die Sprache, die eine beängstigende und vom Ich nicht zu kontrollierende Wirklichkeit ›in den Griff bekommt‹, entwirft ja neue, ihrerseits beängstigende Bilder mit Eigenleben.
Das »rhizomatische Geflecht wiederkehrender Bilder, Themen und Motive«