TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller. Группа авторов

TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller - Группа авторов


Скачать книгу
Bereits in den Erzählungen aus dem Band »Niederungen« werden Einblicke in die banatdeutsche Gesellschaft gewährt, die sich nicht nur über die deutschen Schulen, den eigenen deutschen Kultur- und Pressebetrieb und die geschlossenen Ortschaften definiert, sondern auch durch die Katholische Religion von den mehrheitlich das Banat bewohnenden Rumänen unterscheidet. Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Normierungen und Exklusionsregeln mag es eher mit woanders in Europa liegenden traditionsorientierten katholischen Dörfern geben.

      Herta Müllers frühe Texte sind somit vor allem Geschichten mühsamer Übergänge, die sich entweder wider alle Wahrscheinlichkeit gegen enorme Widerstände dann doch vollziehen oder ausbleiben und die Figuren in einer unerträglichen Aussichtslosigkeit zurücklassen. Erzwungen werden diese Übergänge durch eine schier unerträgliche strukturelle Gewalt, die zum einen in den banatdeutschen Gemeinschaften von Generation zu Generation weitergegeben wird, zum anderen im Staatssozialismus entsteht, der seine eigenen Bürger überwacht und einschüchtert.

      Aktuell an Herta Müllers frühen Erzählungen ist zudem der transnationale Blick auf Europa. Wenn sich Gemeinschaften wie die banatdeutsche selbst dreihundert Jahre nach ihrer Einwanderung in ein Territorium, das mehrheitlich von anderen bewohnt wird, immer noch abschotten und einen Überlegenheitsanspruch aufrechterhalten, wird dies als Gewaltmoment dargestellt. Als Preis für die Gruppenzugehörigkeit müssen die Banatdeutschen auf inter- und transkulturelle Selbstentwürfe verzichten. Genau dies, nämlich Inter- und Transkulturalität im dargestellten mehrsprachigen Raum, wären in den Erzählungen Müllers ex negativo das Naheliegende – zumindest insofern, als die Segregation gegenüber Nicht-Deutschen und die Ehen innerhalb der Sprach- und Kulturgemeinschaft als Absurdität entlarvt werden. Übergänge systematisch zu unterbrechen oder zu verhindern, ist das gemeinsame Zeichen totalitärer Logik, das gemeinsame Signum der Gewalt, das den rumänischen Staat und die banatdeutsche Gemeinschaft verbindet.

      Es geht Herta Müller freilich nicht darum, die demokratische und wesentlich freiere Gesellschaft der Bundesrepublik mit dem Staatssozialismus gleichzusetzen; vielmehr wohnt ihrer Poetik ein sehr feines Sensorium für kollektive Festschreibungen, Verweigerung von Individualität und fehlende Durchlässigkeit gegenüber Selbstentwürfen inne. Die Diskurse und Mechanismen, die individuelle Übergänge hier wie dort verhindern, werden in ihrer jeweiligen Spezifik (de)konfiguriert.

      »Inge. Einem Inspektor gewidmet«: Ironische Dekonfiguration der Propaganda


Скачать книгу