TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller. Группа авторов
»Vom Weggehen und Ausscheren« hervorgehen sollte, kündigt sich hier schon an: Die Brüche und Lücken im Sprachteppich des Beamten sind das Entscheidende. Sie bringen die Leser auf die Spur, auf die es ankommt. Realistisch anmutende Auszüge aus einer Ansprache werden so miteinander verschnitten, dass Sinnangebote jenseits logisch nachvollziehbarer Kausalitäten und syntaktischer Regeln entstehen, indem beim Lesen von einem Schnitt zum nächsten geglitten und so eine Spur erkennbar wird, die systemimmanente Gewalt offenlegt; in dieser ironischen Fusion von Realismus und Dada liegt eine der Charakteristiken von Herta Müllers Poetik. In diesem Beispiel führt die Spur auf die Willkür, Selbstgefälligkeit, Rücksichtslosigkeit, aber auch auf die Allmacht des leitenden Beamten, der ministerielle Zuständigkeiten und Gewaltenteilung ebenso ignorieren, wie er die grammatikalischen Regeln missachten und dabei über die Existenz Inges entscheiden kann. Noch deutlicher wird dieser Zug von Müllers Poetik in den Reflexionen über das Collagieren, die Inge in »Reisende auf einem Bein« anstellt. Zudem lässt sich hier schon der Ansatz ausmachen, den totalitären Anordnungen von Sinn – einschließlich der normierten Verhaltens- und Redeweisen – einen eigenen »Irrlauf im Kopf«30 entgegenzusetzen. »Aus dem, was man erlebt hat, sucht sich der Zeigefinger im Kopf auch beim Schreiben die Wahrnehmung aus, die sich erfindet.«31 Dieser ästhetische, auf Sinneswahrnehmungen basierende Widerstand als Verfahren der Dekonfiguration totalitärer Macht gehört zu den Konstanten in Herta Müllers Werk. Er ist grundsätzlich ironischer Natur, denn auf den ersten Blick werden die Verhältnisse bloß aufgezeigt, insgesamt aber werden sie negiert.32
Der Zeigefinger im Kopf arbeitet, so zeigt sich bereits in »Inge«, nicht nur schneller als die Schere der Zensur, sondern er modifiziert die Sinnzusammenhänge und setzt sie neu zusammen; so entfalten sie ein subversives Potenzial. Voraussetzung dafür ist, dass die Faktur totalitärer Zusammenhänge kenntlich wird: Die Figuren werden dabei vorgeführt, wie sie sich im Takt kollektiver Angst synchronisieren und Handlungsaufträge erfüllen, wie die Überbringerin der samtschwarzen Rosen, die Inge mit dem Tod bedroht: »Die Frau sagte links und tat einen Schritt, die Frau sagte rechts und tat einen zweiten Schritt. (…) Inge hörte ihre Sandalen klappern und ihre Stimme links-rechts, links-rechts, links-rechts sagen.«33 Wenn wenig später Inge auf dem Weg zum Schulinspektorat ihre eigenen Schuhe im links-rechts-Takt klappern hört, wird deutlich, dass existenzielle Angst jede und jeden anfällig für Gleichschaltung macht.
Herta Müller führte in der Paderborner Poetikvorlesung »Der Teufel sitzt im Spiegel« aus, in ihrem Schreiben stets von einem »Punkt der Erfahrung, die ich jemals gemacht habe«,34 auszugehen. Mit dem Punkt ist nicht ein factum brutum gemeint, sondern etwas schmerzhaft Erlebtes, das zum Exemplum erhoben wird. Von einem »kleinen brennenden Punkt«35 geht auch die Figur Inge in der gleichnamigen Erzählung aus, wenn sie, nach der Begegnung mit dem Inspektor wieder zu Hause angekommen, auf den flimmernden Fernsehbildschirm starrt und einen eigenen ›Irrlauf im Kopf‹ beginnt. Sie dekonstruiert das »Panoptikum der Todesarten«,36 in dem sie gefangen ist, indem sie sich selbst zur Beobachterin erhebt und eigene Bilder anstelle der vorgeschriebenen setzt – freilich ein solipsistischer Akt, aber in der Textlogik der einzig verfügbare. In einer Reihe imaginärer Mise en abymes bohrt sich ihr Blick in den Fernsehbildschirm und er-findet darin eine Situation, in der sie sich schließlich selbst beobachten und widerständig agieren kann: »Der Punkt weitete sich und wurde so groß wie der Bildschirm selbst. Inge sah auf dem Bildschirm ihr Zimmer. Inge sah Inge in Inges Zimmer auf Inges Bett liegen. Inge sah Inge auf einem Bildschirm auf einen Bildschirm schauen.«37
Zunächst erfolgt die angsteinflößende Augmentation eines Punktes, der wie ein verstecktes Beobachterauge oder wie eine Kamera innerhalb des Fernsehers wirkt. Die Fläche des Bildschirms konvergiert mit einem imaginären Kameraauge, wobei Inge in der Spiegelung auf dem Bildschirm dasselbe sieht (oder zu sehen meint), was auch ein versteckter Beobachter – das geheime Auge der Securitate im augmentierten Punkt – beobachtet. Angst vor dem Beobachtet-Werden und Selbstermächtigung halten sich am Beginn dieser Szene, die die Ambivalenz aller Mediennutzung in einem Überwachungsstaat förmlich auf den Punkt bringt, die Waage. Im letzten oben zitierten Satz vollzieht sich aber ein re-entry der Unterscheidung zwischen Inge und dem Bildschirm auf der Seite des Bildschirms. Inge sieht dann mehr als ein verstecktes Auge aus dem Fernseher sehen und die Spiegelung des Bildschirms zeigen könnte, nämlich sich selbst wie sie auf den Bildschirm blickt, und wird damit zur höherrangigen Beobachterin, die sich selbst unter den Bedingungen eines ambivalenten mediengestützten Beobachtungsregimes sehen und hinterfragen kann. Dadurch durchbricht sie den Terror der internalisierten Überwachung und imaginiert mediale Verhältnisse, die ihr Kontrolle und Deutungsmacht gewähren. Es ist kein Zufall, dass sich Inge genau nach diesem re-entry ihrer selbst besinnt und an den rettenden Zettel mit der Selbstanweisung ›Kopfstand‹ erinnert. Sie vollzieht damit eine das geheime Auge der Securitate (sei es anwesend oder bloß imaginiert) provozierende Geste, die diese Art der Überwachung zugleich in ihren Machtansprüchen unterläuft.
»Der weiße Handschuh des Milizmanns (…) über der Stadt«38 verliert mit diesem finalen Kopfstand, der abermals an »Lenz« und die Subversion einer als ›verrückt‹ empfundenen Welt erinnert, seinen Schrecken. Spiegelungen und allgemein Medialität (z. B. das Auge der Kamera) werden umcodiert vom Moment der Beschämung und Entmündigung zu einem der Selbstermächtigung: Der Teufel sitzt allenfalls in dem Sinne im Spiegel, als er den Weg zu selbstreflexivem Widerstand und Subversion weist.
In dieser frühen Erzählung gelingt es Herta Müller, »die Spanne« zwischen der Konfiguration der totalitären Ordnung und der »erfundenen Wahrnehmung«,39 die subversiv und de-konfigurierend wirkt, kenntlich zu machen: die Faktur der Gewalt wird ebenso offengelegt wie die Tatsache, dass sie keinen Geltungsanspruch erheben kann und am Ende wie ein Trugbild zerrinnt.
Der Kontrast des Gehalts der Erzählung zum Bekenntnis im Editorial, die »Entwicklung des Geistes der Freundschaft und der Verbrüderung zwischen allen Werktätigen, ohne Unterschied der Nationalität, für die Festigung der Einheit unseres ganzen Volkes« als »ständige Aufgabe«40 anzunehmen, könnte kaum deutlicher sein. Die Redaktion beschwört den »Einklang mit der gesamten Presse«41 – Herta Müller entlarvt ihn als totalitären Gleichtakt; die Redaktion bekennt sich zur »Tradition im besten Sinne der humanistischen und kommunistischen Tätigkeit der Journalisten und Schriftsteller«42 – Herta Müller verweigert sich nicht nur affirmativer Sinnstiftung, sondern zersetzt ihren Anspruch und setzt individuelle Eigenlogik dagegen.
Die Erzählung »Inge« wurde im Band »Niederungen«, der 1982 im Kriterion Verlag in Bukarest erschien, wieder abgedruckt. Zwar wurden der jungen Schriftstellerin Preise und Ehrungen zuteil, doch beim Geheimdienst gingen bereits harsche Anklagen ein: »Kritik und noch mehr Kritik. Diese Kritik ist so destruktiv, dass man sich fragen muss, was denn der Zweck dieser Texte sein soll (ACNSAS, FI, Akte 233477, Bd. 1, 5).«43 Langjähriger Chefredakteur der »Neuen Literatur« war von 1969 bis 1984 Nikolaus Berwanger, auch er ein banatdeutscher Schriftsteller, der sich 1984 für die Flucht in die Bundesrepublik entschied und dort ab 1987 im Marbacher Literaturarchiv arbeitete; er ließ durchaus kritische Untertöne jüngerer Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu. Das Personengeflecht von Redakteuren, Zensoren, Parteifunktionären, die alle als Spitzel infrage kamen, steigerte den Druck auf die Schriftstellerin