TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller. Группа авторов
dem Roman) ablegen, unter dem Zeichen der ›Überlebensschuld‹: »Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm (…), wenn wir reden, werden wir lächerlich.«23 In »Heute wär ich mir lieber nicht begegnet« schließlich strukturiert die Straßenbahnfahrt der Hauptfigur zu ihren Verhören durch die Securitate den Roman und bringt die Erzählerin, unterbrochen von Erinnerungen und Reflexionen, der Gefahr des Verhörs und der Gefahr, im Verhör (sich) selbst zu verraten, beständig näher. Das scheint deshalb wichtig zu betonen, um den epischen Zug der Texte, ihre auf ›Was-Spannung‹ angelegte Handlung, die Welthaltigkeit transportiert und auch rein stofflich interessierte Leser*innen anspricht, hervorzuheben, obgleich in Rezeption und Forschung häufig das Bildmächtige, Poetische, oft Surreale der Metaphorik und die nahezu traumlogikhaften Handlungsabläufe betont werden.
Die in der konkreten Situation der Diktatur geschulte Wahrnehmung ist ebenso Überlebensinstinkt wie poetische Gabe; die Mehrdeutigkeit der Bilder und der Sprache sind Gefahr und Geschenk – das führen die Romane auf engstem Raum vor, ohne es weitschweifig explizieren zu müssen.
Zur Dichte des Verfahrens – wie zum Raumgefühl einer begrenzten, beengten und überwachten Welt – tragen dabei wesentlich zwei Eigenarten der Müller’schen Erzählweise bei: die interne Fokalisierung, das heißt die Beschränkung der Sichtweise und des mitgeteilten Weltwissens auf die Perspektive, oft sogar auf das konkrete Gesichtsfeld einer Figur, und die selbstbewusste Lakonie, mit der die Erzählstimme diese Sicht der Welt kommentar- und erläuterungsfrei vorträgt, häufig in Form einer Metapher, die ein tertium comparationis voraussetzt und impliziert, und eben nicht als explizierender Vergleich. Nur der Verzicht auf eine im traditionellen Sinne ›allwissende‹ Erzählinstanz oder eine Erzählstimme mit Überblick ermöglicht dem Leser eine Immersion in die erzählte Welt, bei der er Hilflosigkeit, Desorientierung und Einschüchterung der Figuren nachempfinden kann, indem er ihre notwendig beschränkte Sichtweise teilt und ähnlich wie sie darauf angewiesen ist, alle Beobachtungen als Zeichen zu deuten und zum Verständnis der Welt und der eigenen Orientierung in ihr zu nutzen – denn es ist ja gerade die behauptete Allmacht des Kontrollstaates, sein »Wir wissen alles«,24 dem die Protagonisten trotzen. Insofern ist die Wahl der Fokalisierung auch ein Bekenntnis zu den Opfern und eine Parteinahme der Autorin für sie. Die Gefahren der in bezugs- und bedeutungsreiche Details zersplitterten Weltsicht und ihre Nähe zur Paranoia liegen auf der Hand; ebenso gewichtig sind aber der poetische Mehrwert dieses ›fremd(geworden)en Blicks‹25 und seine hermeneutisch-epistemologische Bedeutung.
Wie sich perspektivisches Erzählen, kriminalistische Spannung, Metaphorik und Erkenntnistheorie in Müllers Romanen wechselseitig bedingen und plausibilisieren, lässt sich am Umgang mit Ding-Objekten ersehen: Alle Figuren, Orte oder Gegebenheiten werden aus der Nahperspektive eines erlebenden Ichs präsentiert, also weitgehend erklärungslos, und in der Regel auch nahezu privatsprachlich benannt, mit Spitz- oder Übernamen, sofern es sich um nähere Bekannte handelt, oder mit Vornamen, aber nie mit vollständigen Namensbezeichnungen aus Vor- und Nachnamen. Manche auch für die Handlung wichtige Figuren – etwa der Mann, der den Selbstmord der schwangeren Lola (in »Herztier«) zu verantworten hat – bleiben sogar namenlos, was sich aus dem begrenzten (und Täuschungen unterliegenden) Wissenshorizont der Erzählstimme erklärt. Statt über Namen werden die Figuren über ein Detail ihrer Kleidung (Hemd, Anzug oder Sonnenbrille),26 eine physiognomische Besonderheit oder ihre äußere Erscheinung (der Zwerg, der Angler),27 ihren Beruf (Friseur, Schneiderin, Pförtner, Direktor, Vorarbeiter)28 oder ein Ding-Objekt (z. B. das Motorrad in »Heute wär ich mir …«) von anderen Figuren unterscheidbar gemacht. Das erlaubt eine (relative) Individuation innerhalb einer als sowohl gleichförmig als auch anonym wahrgenommenen menschlichen Umwelt: »sie sind wiedererkennbar, ohne in ihrer Identität bekannt zu werden«.29 Die Markierung bleibt auch innerhalb der figurenperspektivischen Wahrnehmung (und Erzählweise) insofern schlüssig und glaubwürdig, als sie über visuelle Merkmale motiviert ist, also kein Mehr- oder Hintergrundwissen voraussetzt, das ja nur über eine Übersicht (oder eine externe, über- oder interpersonelle Form der Fokalisierung) möglich wäre. Zugleich mit der Kenntlichmachung übernimmt das Ding-Symbol einerseits die Funktion, die Figur (metaphorisch) zu charakterisieren (per Anzug als korrekten Angestellten oder per Motorrad als jugendlichen Draufgänger) und metonymisch als Teil seines Körpers oder Besitztums für den oft namenlosen oder nur mit dem Vornamen Benannten einzutreten – in der Gedankenwelt der Erzählerin und in ihrer Erzählung. Zu dieser doppelten Stellvertretungsfunktion tritt oft innerhalb der Romanhandlung eine – quasi kriminalistische – Indizienfunktion, wenn am (Wieder-)Erkennen von Hemd/Kleidungsdetail oder Motorrad der Träger/Besitzer als (verdeckter) Mitarbeiter der Securitate, als mit den staatlichen Organen kooperierend oder von ihnen bezahlt, jedenfalls als Täter oder Verräter erkannt und überführt wird. Wer mit der Poetik der Autorin vertraut ist, vermag deshalb wiederkehrende Objekte nicht nur als Metaphern oder Metonymien zu erkennen, sondern sie auch symbolisch zu lesen, insofern sie – innerhalb des Müller’schen Werks und ihrer genreübergreifenden Poetik – jene Eigenschaften aufweisen, die man gemeinhin Symbolen zuweist. Müllers literarische Mimesis spricht den Dingen ihren überindividuellen Bedeutungswert nicht nur im Text als poetische Zeichen zu, sondern behauptet ihn auch für die Sphäre der wahrgenommenen Wirklichkeit. Das macht die Autorin streitbar und verleiht ihrer Stimme Autorität – nicht nur in ihren Romanen.
1 Herta Müller: »Heute wär ich mir lieber nicht begegnet. Roman«, Reinbek 1997, S. 7. — 2 Herta Müller: »Der Fuchs war damals schon der Jäger. Roman«, Reinbek 1992. — 3 Herta Müller: »Herztier. Roman«, Reinbek 1994. — 4 Hierin sowie im anderen historischen und thematischen Fokus liegt eine wesentliche Differenz zum Roman »Atemschaukel« (München 2009), der im Austausch mit Oskar Pastior entstand und dessen Erlebnisse autofiktional gestaltet. Literarästhetische Einwände u. a. gegen die Metaphorik in »Atemschaukel«, die manche Kritiker unter Kitschverdacht stellten und als »parfümiert und kulissenhaft« kritisierten (vgl. Iris Radisch: »Kitsch oder Weltliteratur? Gulag-Romane lassen sich nicht aus zweiter Hand schreiben. Herta Müllers Buch ist parfümiert und kulissenhaft«, in: »Die Zeit«, 20.8.2009; https://www.zeit.de/2009/35/L-B-Mueller-Contra, aufgerufen am 15.4.2020), mögen sich aus der Dissoziation von fremder Biografie und Fiktion erklären. Müller selbst akzentuiert die gemeinsame Autorschaft an der Fiktion des Faktischen: »wir schrieben (…) miteinander erfundene Realitäten«. Herta Müller: »Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel«, München 2011, S. 129. — 5 So zum Beispiel Moyrer über »Herztier«. Monika Moyrer: »›Herztier‹«, in: Nobert Otto Eke (Hg.): »Herta Müller Handbuch«, Stuttgart 2017, S. 41–49, hier S. 46; doch handelt es sich hier um eine Stoff- und Autorin-spezifische Stilistik, welche die drei Ceauşescu-Romane eint und eben für andere Romane, den Ankunftsroman »Reisende auf einem Bein« (Berlin 1989) oder den Gulagroman »Atemschaukel« (München 2009) nur bedingt gilt und ›funktioniert‹. — 6 Norbert Otto Eke: »Schönheit der Verwund(er)ung. Herta Müllers Weg zum Gedicht«, in: »TEXT + KRITIK«, H. 155 (2002): »Herta Müller«, S. 64–79, hier S. 70. — 7 Herta Müller: »Niederungen. Prosa«, Bukarest 1982 (Berlin 1984; München 2010). — 8 Herta Müller: »Hunger und Seide. Essays«, Reinbek 1995. —