Blut und Wasser. Jurica Pavicic

Blut und Wasser - Jurica Pavicic


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      Jurica Pavicic

      Blut und Wasser

      Übersetzt von Blanka Stipetic

Schruf und Stipetic

      Deutsche Erstausgabe

       © Schruf & Stipetic GbR, Berlin 2020

       www.schruf-stipetic.de

      Titel der Originalausgabe:

       Crvena voda

       (Profil Zagreb 2017)

       © 2017 Jurica Pavicic

      ISBN: 978-3-944359-49-6

      Covergestaltung: Kathrin Mock

      Foto: Stevan Aksentijevic, pixabay

      Das Buch erscheint mit finanzieller Unterstützung des Ministeriums für Kultur der Republik Kroatien.

      Vervielfältigung und gewerbliche Nutzung nur nach ausdrücklicher Genehmigung der Schruf und Stipetic GbR.

      Inhalt

       Erster Teil: Silva ist verschwunden

       1 Vesna (1989)

       2 Mate (1989)

       3 Jakob (1989)

       4 Mate (1989)

       5 Jakob (1990)

       Zweiter Teil: Scheidewege

       6 Vesna (1991)

       7 Adrian (1995)

       8 Mate (2001)

       9 Gorki (2004)

       10 Brane (2005)

       11 Jakob (2007)

       12 Elda (2008)

       13 Mate (2012)

       Dritter Teil: Silvas Rückkehr

       14 Jakob (2015)

       15 Gorki (2015)

       16 Elda (2015)

       17 Gorki (2015)

       18 Vesna (2015)

       Vierter Teil: Blut und Wasser

       19 Gorki (2016)

       20 Ursula (1989)

       21 Gorki (2016)

       22 Ursula (2016)

       23 Mate (2017)

      Erster Teil

      Silva ist verschwunden

      1 Vesna (1989)

      Zuerst erinnert sich Vesna immer an das Wetter. Altweibersommer, als würde der Himmel sich ins Fäustchen lachen. Den ganzen Nachmittag über wehte vom Meer her ein leichter Mistral und erfrischte den warmen Septembertag. Als es dunkel wurde, kroch angenehme Kühle durch die Gassen, Küchen und Zimmer, ein erster Bote des Herbstes.

      Doch Vesna erinnert sich nicht nur an das Wetter. Sie erinnert sich auch an die Umgebung.

      Sie erinnert sich an das Haus auf der Anhöhe, in der Gasse hinter der Kirche, das Haus, in dem sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hat. Wenn sie die Augen schließt, sieht Vesna ganz deutlich die Zimmer, Möbel und Einrichtungsgegenstände. Die Eingangstür oben an der Treppe, die verglaste Veranda, das Wohnzimmer, die Terrakottafliesen in der Küche. Im Wohnzimmer stand ein Tisch mit einem abgewetzten Sofa. Im Flur ein Garderobenständer aus Metall, daneben die Tür. Die Tür zu Silvas Zimmer, an der Silva ein Schild angebracht hatte: KEEP OUT.

      Vesna erinnert sich, wie das Wohnzimmer an diesem Tag aussah. In einer Ecke stand der Fernseher, auf dem Sessel lag ein Haufen ungebügelter Wäsche. An der Wand hing ein Kalender mit kanadischen Landschaften und über der Küchentür eine Oleografie. Das Bild zeigte Jesus mit feuchten und verträumten Augen, mit gewelltem Barthaar, gesenktem Kopf und erhobenem Zeigefinger, als wollte er sie vor den kommenden Ereignissen warnen.

      So sah ihr altes Haus an jenem 23. September 1989 aus.

      Es war ein Samstag, und wie jeden Samstag aßen sie gemeinsam zu Abend. Alle vier saßen sie am Tisch. An der Stirnseite Jakob, ihm gegenüber Vesna und an der Längsseite zur Terrasse hin ihre beiden Kinder, die Zwillinge Silva und Mate.

      Daran erinnert sich Vesna. Sie sind alle vier zu Hause und sitzen am Tisch. Vor ihnen steht das Essen, das sie gekocht hat. Es gibt gedünstete grüne Bohnen, frittierte Sardinen und dazu Brot. Zu viert sitzen sie am Tisch und essen, ein ganz gewöhnliches Abendessen wie viele zuvor.

      Im Fernsehen laufen die Nachrichten. Es sind bewegte Zeiten: Chinesische Studenten demonstrieren auf dem Tiananmen-Platz, die Rumänen rebellieren, die slowenische Kommunistische Partei hat eine Verfassungsänderung durchgeführt und fordert eine Reform der jugoslawischen Föderation. Die Ereignisse erhitzen die Gemüter. Aber Jakob und Vesna interessieren sich nicht für Politik. Sie leben in dem festen Glauben, wenn sie sich nur von Schwierigkeiten fernhalten, werden sich die Schwierigkeiten auch von ihnen fernhalten.

      Vesna erinnert sich an alles: Gerüche, Geschmäcker, Bilder. Sie erinnert sich an die weichen Innereien der Sardinen, die im Mund zergingen. An die Bohnen, die sie mit etwas Knoblauch zubereitet hatte. Sie erinnert sich an Jakob, der wie immer langsam und wenig aß. Daran, wie Silva gierig die kleinen Fische verschlang und Gräten aus dem Mund pulte. Natürlich erinnert sie sich auch an Mate. Wie er langsam und vorsichtig die Sardinen zerkaute, die großen Gräten ordentlich am Tellerrand nebeneinander ablegte, wie Leichen. Mate hat schon immer so gegessen. Langsam, methodisch zerlegt er sein Essen in kleine Stücke, als müsste er einen Liliputaner füttern.

      Vier Gestalten, über den Tisch gebeugt, saugen an kleinen Fischen


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