Blut und Wasser. Jurica Pavicic

Blut und Wasser - Jurica Pavicic


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er das Haus der Lekajs, rennt an der Kirche vorbei und nach Hause. Seine Eltern sitzen erwartungsvoll am Tisch. Mate sagt kein Wort. Er geht sofort in Silvas Zimmer und zieht die Schreibtischschublade auf. Sie ist leer. Kein Geldbeutel, kein Adressbuch, kein Pass.

      Silva hat ein geheimes Versteck. Dort hortet sie ihre Ersparnisse. Er beugt sich hinunter und greift unter den Schrank in einen doppelten Boden. Er holt eine Holzkiste heraus. Das ist die Kiste für Silvas Geheimnisse. Sie ist leer, kein Geld und auch sonst nichts.

      Mate geht zurück in die Küche und setzt sich an den Tisch. Dann sagt er es. Er versucht dabei so ruhig wie möglich zu bleiben.

      Wir müssen die Polizei rufen.

      * * *

      Die Polizei kommt am Nachmittag. Sie sind zu dritt. Zwei tragen Uniform, einer ist in Zivil und offensichtlich der Chef, ein Mann Ende zwanzig mit ein paar überschüssigen Pfunden. Er stellt sich als Inspektor Gorki Schain vor. Mate hat noch nie gehört, dass jemand Gorki heißt.

      Die beiden Uniformierten besichtigen Garten und Hof und durchsuchen dann lustlos Silvas Zimmer, als würden sie eine unwichtige Aufgabe abarbeiten. Währenddessen setzt sich der Mann namens Schain an den Küchentisch und öffnet ein Notizbuch mit Kunstledereinband. Er stellt einige allgemeine Fragen, hört zu und macht sich Notizen. Am Ende bittet er Mate, ihm Silvas Geheimversteck zu zeigen.

      Gorki mustert die Schublade und Silvas Zimmer mit unbekümmerter Lässigkeit, als wäre alles, was er sieht, nichts weiter als ein Teenager-Klischee.

      Gorki setzt sich wieder an den Küchentisch und notiert etwas in sein Buch. Dann schlägt er es zu, steht auf und geht zur Tür. Er sagt, sie sollten sich keine Sorgen machen. »Wenn Teenager verschwinden«, sagt er, »kommen sie in achtzig Prozent der Fälle von ganz alleine wieder nach Hause. Sie tauchen innerhalb von vierundzwanzig Stunden wieder auf, genauso überraschend, wie sie verschwunden sind.«

      Dann schreibt Schain seinen Namen und seine Nummer auf einen Zettel. Den Zettel gibt er Jakob und sagt, sie sollten am nächsten Tag anrufen, wenn Silva bis dahin nicht wieder aufgetaucht ist.

      Als die Polizei weg ist, setzt Vesna sich an den Tisch und vergräbt das Gesicht in den Händen. Jakob geht auf den Balkon, als wäre der Balkon ein Aussichtsturm, von dem aus er seine Tochter früher sehen wird, wenn sie kommt. Er lässt keine Nervosität erkennen. Aber Mate kennt ihn. Er weiß, dass die Unruhe an ihm nagt.

      Auf dem Küchentisch steht noch immer das unberührte Mittagessen. In der Backform liegt ein kaltes Brathähnchen umgeben von ebenso kalten Kartoffeln in erstarrtem Fett. Die Küche riecht noch nach knuspriger Hühnerhaut und nach Bratfett. Der Anblick des unberührten Essens ist unerträglich.

      Mate steht auf, stellt die Weinflasche in den Kühlschrank. Salat und Kartoffeln kippt er in den Müll. Das Hähnchen zerteilt er und legt es auf einen Teller, den er in den Kühlschrank stellt. Zum Schluss scheuert er die Backform, bis sie sauber ist.

      Als er fertig ist, stellt er sich vor seine Eltern an den Tisch. Vesna ist noch immer wie erstarrt, als würde nichts zu ihr durchdringen. Mate wartet auf irgendeine Reaktion, und als keine kommt, stapelt er die sauberen, ungenutzten Teller aufeinander und räumt sie in den Küchenschrank.

      * * *

      Punkt acht am nächsten Morgen rief Jakob bei der Polizei an und teilte mit, Silva sei immer noch nicht aufgetaucht.

      Bis zum Mittag waren Haus und Dorf voller Polizei. Noch am gleichen Tag wurde Silva offiziell als vermisst erklärt.

      Die Polizisten schwärmen aus, durchsuchen von Trockenmauern eingefasste Terrassen und Olivenhaine oberhalb des Dorfs. Sie suchen den Meeresgrund am Hafen ab und das Gebüsch am Ufer. Eine Gruppe ist für das Gelände jenseits von Krizev Rat zuständig, sie suchen das Gelände um die Kaserne und die alten Marinetunnel ab. Eine andere Gruppe steigt auf den Hügel und durchkämmt das Gebiet an der Wasserzisterne und am Steinkreuz.

      Die Familie sitzt derweil im Haus und wartet. Jakob läuft wie ein Getriebener im Hof herum. Vesna liegt mit Tabletten ruhiggestellt auf dem Sofa mit dem Arm über den blutunterlaufenen Augen.

      Irgendwann am Nachmittag kommt Schain vorbei und lässt sie alle am Tisch Platz nehmen. Er erläutert ihnen, was sie herausgefunden haben. Silva sei auf dem Fischerfest gewesen. Zahlreiche Zeugen hätten sie dort gesehen. Sie habe den ganzen Abend getanzt und sich beim DJ drei Mal Red Red Wine von UB40 gewünscht. Sie habe eng umschlungen mit Adrian Lekaj getanzt. Mindestens vier Zeugen hätten gesehen, wie die beiden das Fest gegen elf verließen. Lekaj behauptete, sie seien bis zwei zusammen gewesen. Dann habe Silva gesagt, sie müsse heim, weil sie am nächsten Morgen verreise. Sie hätten sich an der alten Zisterne unterhalb des Steinkreuzes voneinander verabschiedet. Dann sei Silva den Pfad hinunter zu den ersten Häusern gelaufen. Da habe Lekaj sie das letzte Mal gesehen. Und er sei der Letzte, der sie gesehen hat.

      »Wir haben ihn überprüft«, sagt Gorki, als wollte er ihre Zweifel beseitigen. »Wir haben seine Fingerabdrücke überprüft, Spuren unter den Nägeln gesichert. Wir haben einen Lügendetektortest mit ihm gemacht. Wie es aussieht, sagt er die Wahrheit.«

      Nach einer kurzen Pause spricht er weiter: »Denken Sie nach. Wohin hätte Silva so dringend verreisen müssen?«

      »Sie wollte nicht verreisen«, sagt Jakob. »Heute hätte sie doch zurück nach Split und in die Schule gemusst.«

      »Sind Sie sicher?«, fragt der Inspektor.

      »Wir sind sicher«, antwortet Vesna.

      »Wirklich? Wir haben einen anderen Eindruck.«

      Ich auch, denkt Mate. Er schweigt, aber er weiß genau, welchen Eindruck der Inspektor hat. Er glaubt an eine geplante Flucht. Silva hat das Geld, ihre Dokumente und den Pass mitgenommen. Sie muss das alles geplant haben.

      Während Mate noch darüber nachdenkt, kommt ein Polizist herein und bittet den Inspektor nach draußen.

      Vor dem Haus flüstern Schain und der Polizist miteinander, dann steigen sie am Haus entlang in den oberen Garten, zur Regenrinne hinter den Kakteen. Sie bücken sich. Der Polizist stochert mit einem Stock im Regenabflussrohr herum, bis er gefunden hat, was er sucht. Er steckt seinen Arm tief in das Rohr und zieht eine Plastiktüte heraus. Gorki und der Polizist schauen in die Tüte. Dann wickelt Schain sie wieder zusammen, und mit dem Bündel unter dem Arm kommt er in die Küche, doch jetzt schaut er grimmig und angespannt. Er wirft die Tüte auf den Tisch.

      »Können Sie mir dazu etwas sagen?«, fragt er.

      Er öffnet die Tüte und holt ein bräunliches, mit Tesafilm umwickeltes Päckchen heraus. Noch bevor Schain das Päckchen öffnet, weiß Mate, was es enthält. Er weiß es und gegen seine Schläfen branden Wogen des Entsetzens.

      Gorki schneidet das Klebeband durch und braunes Pulver rieselt auf den Tisch. Jakob erkennt offensichtlich, um was es sich handelt. Und Vesna auch, was Mate an ihren entsetzten und beschämten Blicken merkt. Vesna starrt auf das Päckchen wie auf einen giftigen, hässlichen Käfer.

      »Das ist Heroin«, sagt Gorki. »Aber das wissen Sie ja schon. Gehört es Ihrer Tochter? Was wissen Sie darüber?«

      Jakob schweigt. Und auch Vesna, doch sie schaut zu Mate. Ihr zorniger Blick ist ein einziger Vorwurf. Dieser Blick sagt: Du musst davon gewusst haben.

      Mate senkt beschähmt den Blick. Er schaut starr auf den Tisch und auf das Päckchen, aus dem noch immer wie in Zeitlupe braunes Pulver rieselt.

      Als es dunkel wird, sind die Polizisten weg. Eine Suche bei Dunkelheit sei zwecklos, hat Schain gesagt und gegen neun seinen Männern den Abzug befohlen. Zehn Minuten später liegt wieder Ruhe über dem Dorf. In der Bucht leuchten die Straßenlaternen, hinter den Fensterläden flimmern Fernseher. Die Straßen sind leer. Aber Mate weiß: Hinter all diesen Fensterläden, Fliegengittern und Jalousien ist seine Schwester das einzige Thema. Während im Hintergrund der Fernseher läuft, während sie Tee kochen oder Geschirr spülen, sprechen die Dorfbewohner einzig und allein über Silvas Verschwinden.

      Mate und seine Eltern sind wieder allein im Haus. Vesna ist in einem schrecklichen


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