Blut und Wasser. Jurica Pavicic

Blut und Wasser - Jurica Pavicic


Скачать книгу
wissen. Aber heute weiß sie es. Dieser Moment, als Silva sagte: Tschüss dann! und mit wehendem Kleid zur Haustür ging, das war das letzte Mal, dass sie Silva sahen.

      2 Mate (1989)

      Mate erwachte mit einem Kater. Die Zimmerdecke über ihm schwankte und von seinen Schläfen zog sich ein dumpfer Alkoholschmerz zur Stirn.

      Er öffnete die Augen und schloss sie gleich wieder, weil seine Kopfschmerzen von dem grellen Morgenlicht noch schlimmer wurden. Mit geschlossenen Augen blieb er liegen und versuchte, noch einmal einzuschlafen, in der Hoffnung, dass seine Kopfschmerzen dann nachlassen würden. Aber dafür war es zu spät. Das Licht und die Geräusche vertrieben den Schlaf, und so lag er mit geschlossenen Augen im Bett und lauschte auf die Geräusche der Außenwelt.

      Gegen sieben hörte er im Flur die Schritte seines Vaters. Dann lief das Wasser in der Dusche, dann wieder Schritte. Sein Vater unterhielt sich leise mit seiner Mutter. Aus der Küche wehte der verführerische Duft von Kaffee herüber.

      Er hörte Schritte auf der Treppe, dann, wie sein Vater den Schuppen öffnete. Von dort kamen schon bald Arbeitsgeräusche. Wie jeden Sonntagmorgen klebte und lötete sein Vater.

      Um Viertel nach acht rief die Glocke von St. Spyridon zur Morgenmesse. Wieder hörte Mate Schritte auf der Treppe. Vesna ging zur Messe. Vesna kam von der Messe zurück. Sie hustete im Flur und klapperte mit Geschirr. Dann öffnete sie die Tür zu Silvas Zimmer, wieder Schritte auf der Treppe und das Knarren der Tür des Schuppens.

      Dann, es war kurz vor zehn, hörte Mate aus dem Garten den Satz, mit dem das Unglück seinen Lauf nahm. Klar und deutlich hörte Mate, wie Vesna sagte: Silva ist weg. Sie ist nicht in ihrem Zimmer.

      Es war Sonntag, der 24. September, morgens um zehn vor zehn.

      Sie waren nicht wirklich besorgt. Wenn Mate später daran zurückdenkt, findet er das schrecklich, aber so war es. Weder sein Vater noch seine Mutter, noch er selbst machten sich Sorgen.

      Silva ist am Abend zuvor irgendwo hängengeblieben, hat bei jemandem übernachtet oder ist früh aus dem Haus. Sie wird schon wiederkommen. Es kann nichts Schlimmes passieren. Sie leben ja nicht in einer amerikanischen Großstadt, hier gibt es keine Entführungen, Überfälle oder Serienmörder. Das hier ist Misto – und in Misto ist noch nie jemandem etwas passiert.

      Als Mate aufgestanden ist und geduscht hat, fragt seine Mutter ihn besorgt, ob er wisse, wo seine Schwester sei. Mate erzählt, was er weiß. Silva war auf dem Fischerfest, so wie er. Auf dem Fest hat eine Band gespielt, und nach dem Konzert hat DJ Robi Musik aufgelegt. Silva hat getanzt. Da hat er sie das letzte Mal gesehen: als sie gegen elf Uhr tanzte.

      Aber Mate erzählt seiner Mutter nicht alles. Er sagt nicht, dass er und seine Clique das Fest gegen elf verlassen haben, weil sie ein paar Flaschen Brandy und gutes Gras hatten. Er sagt nicht, dass er den Rest der Nacht am Strand in der Travna-Bucht verbracht und versucht hat, ein Mädchen aus Novi Sad mit sexy vojvodinischem Akzent rumzukriegen. Er sagt seiner Mutter nicht, dass er zum Joint fast einen Liter italienischen Brandy getrunken hat und jetzt tierische Kopfschmerzen hat.

      Er sagt seiner Mutter auch nicht, dass um elf, als er das Fest verlassen hat, Silva gerade mit Adrian tanzte, dem Sohn des Bäckers. Auch nicht, dass der DJ für Silva erst einmal und dann noch einmal Red Red Wine von UB40 auflegte und dass Silva sich in Adrians Armen im langsamen Reggae-Rhythmus wand. Auch Silva würde gegenüber den Eltern nichts von seinen Dummheiten verraten. Deshalb hält er dicht.

      Seine Mutter nickt tadelnd und geht zurück in die Küche, um die Kartoffeln zu schälen. »Wahrscheinlich ist sie bei Brane. Sie wird schon auftauchen«, sagt Jakob und geht zurück in seine Werkstatt, gelassen und unbesorgt.

      Eine Stunde und fünfzig Minuten verbringt Jakob im Schuppen, konzentriert auf seine Amateurfunkerei. Vesna schiebt Kartoffeln und Hähnchen in den Ofen, setzt sich dann an den Küchentisch und liest die Samstagsausgabe der Zeitung. Mate nimmt heimlich eine Kopfschmerztablette und zieht sich in sein abgedunkeltes Zimmer zurück, wo er einschläft. Beim Aufwachen sind seine Kopfschmerzen weg. Er schaut auf die Uhr: Viertel nach eins.

      Um halb zwei betritt er die Küche. Teller, Salat und eine Flasche Weißwein stehen auf dem Tisch. Aus dem Ofen kommt der verlockende Duft von gebratenem Hähnchen. Aber Silva ist noch immer nicht zu Hause. Mate erinnert sich an den Moment. Denn jetzt ist er das erste Mal ein bisschen, nur ein kleines bisschen, beunruhigt.

      Um Viertel nach zwei ist sie immer noch nicht da. Vesna lehnt am Kühlschrank und man sieht ihr an, wie wütend sie ist. Mates Vater steht am gedeckten Tisch und schaut auf die Wanduhr, deren großer Zeiger sich der Vier nähert. Schließlich, um zwanzig nach zwei, sagt er: »Mate, lauf mal hinunter ins Dorf und such nach ihr. Irgendwo muss sie ja stecken.«

      »Such nach ihr«, sagt sein Vater um zwanzig nach zwei, am 24. September 1989.

      Damals wusste Mate es noch nicht. Aber heute weiß er es. An diesem Tag, in dieser Minute, begann seine Suche.

      * * *

      Um zwanzig nach zwei schlüpft Mate in seine Turnschuhe und verlässt das Haus, um seine Schwester zu suchen. Er läuft zum Kirchplatz, dann die steile Gasse hinter der Bäckerei der Lekajs hinunter, wo der Genossenschaftslaster steht. Am Fischerhafen schlägt er den Uferweg zum Dorfausgang ein, wo die Kaimauer endet und nur noch wenige Häuser stehen. Aus dem asphaltierten Weg wird ein Schotter und schließlich ein Trampelpfad.

      Im Mai 1989 waren Brane Rokkov und Silva ein Paar geworden. Eines Abends nach einer Party mit Wein und Gras verschwanden Brane und Silva in der Dunkelheit. Eng umschlungen kamen sie wieder und Brane strahlte vor Glück. »Ich und deine Schwester sind jetzt zusammen«, sagte er am nächsten Tag und Mate brachte vor Überraschung keinen Ton heraus.

      Er wusste schon lange, dass Silva Brane gefiel. Aber Silva gefiel allen Männern in Misto. In der neunten Klasse waren sie einmal alle zusammen zum Muscheltauchen in die Travna-Bucht gefahren. Fünfzehn Leute mit drei Booten, Einheimische und Touristen. Als sie genügend Muscheln geerntet hatten, machten sie die Boote fest und entzündeten in der Bucht ein Feuer. Ein paar Jungs aus Zagreb spielten Gitarre, und eine Flasche Wein kreiste ums Feuer. Irgendwann bemerkte Mate, wie Brane Silva anschaute, so als wollte er sie mit Blicken verschlingen. Doch an dem Abend hatte es Silva auf einen der Jungs aus Zagreb abgesehen. Sie ließ sich von ihm umarmen, und gegen zehn begannen sie, sich zu küssen, und die Hand des Jungen steckte irgendwo weit unter Silvas Taille. Mate schaute vor lauter Verlegenheit weg und sein Blick fiel auf Brane. Brane stand grimmig und verzweifelt am Feuer.

      Im September ging Silva wieder nach Split zur Schule und Brane hatte sich wieder beruhigt, wie es schien. Doch seine Geduld zahlte sich aus. Im Mai des folgenden Jahres kamen Brane und Silva endlich zusammen, und diese Beziehung hielt trotz Silvas Abwesenheiten und Aufenthalten in der Stadt. Von Montag bis Freitag war Silva in Split und führte ihr eigenes Leben. An den Wochenenden kam sie nach Misto, und dann waren sie und Brane zusammen. Brane holte sie zu Hause ab und sie gingen in eins der zweieinhalb Cafés, aus denen das Nachtleben des Ortes bestand. Brane hatte zwar den Wunsch, möglichst die ganze Zeit alleine mit Silva zu verbringen. Doch Silva hatte andere Pläne. Sie schleppte ihn dorthin, wo es Gesellschaft, Alkohol und Spaß gab und wo Mate war. Mate schien es manchmal, dass das Brane nicht gefiel. Doch schnell begriff er, dass bei diesem Paar Silva die Anführerin war und Brane der ergebene Gefolgsmann.

      Nach kurzer Zeit erreicht Mate eine kleine Kapelle und damit die Spitze der Halbinsel, die Stelle, an der das Land am weitesten ins Meer ragt. Nach Süden hin ist die Bucht offen und die grauen, nackten, von Salz angefressenen Felsen schieben sich hoch ins Land. Früher hatte es geheißen, diese Landspitze sei gefährlich für Seeleute. Deshalb hatten sie hier wohl die Kapelle errichtet, die der Beschützerin der Seeleute geweiht ist. Die Kapelle ist klein, gerade mal so groß wie eine Hundehütte oder ein gemauerter Grill. Sie kauert an der Landspitze über den scharfen Felsen. Auf dem spitzen Dach thront ein rostiges Kreuz. Unter dem Giebel steht in schnörkeliger Schrift: STELLA MARIS. In der vergitterten Öffnung steht eine hölzerne Marienfigur, und für Mate sieht es so aus, als sitze die heilige Muttergottes in ihrem eigenen kleinen Gefängnis.

      Hinter


Скачать книгу