Blut und Wasser. Jurica Pavicic

Blut und Wasser - Jurica Pavicic


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geschliffene Felsen. Auf der anderen Seite, hinter der Mauer, ein riesiges brachliegendes Gelände voller Dornengestrüpp und wild wuchernder Olivenbäume. Dieses Gebiet ist nach Branes Familie benannt: Rokkovs Land. Mate läuft über Rokkovs Land, bis er Branes Elternhaus erreicht.

      Das Haus der Rokkovs stand einsam auf einer Ebene am Meer. Vor dem Haus führte eine Bootsrampe ins Wasser, eine schräge Betonfläche mit Schienen in der Mitte. Branes Vater Tonko hatte Rampe und Handwerk von seinen Vorfahren geerbt. Er reparierte Boote, flickte Kunststoffboote wieder zusammen, verstärkte die Wände und sanierte die Oberfläche. Das war eine laute, schmutzige Arbeit, oft mit giftigen Stoffen, die er nur an einem Ort weitab von anderen Wohnhäusern und anderen Menschen verrichten konnte.

      Als Mate sich dem Haus nähert, hört er die Schleifmaschine. Er geht näher und ruft einen Gruß. Die Schleifmaschine verstummt und hinter einem der Boote taucht Tonkos Kopf auf. Haare und Bart sind weiß von feinem Staub, als wäre er ein schlecht verkleideter Nikolaus. Er bedeutet Mate mit einem Nicken, ins Haus zu gehen.

      Das Haus der Familie Rokkov war nicht einfach ein Haus. Als Kind hielt Mate es für ein Schloss. Es war groß, mit einem Hof, der von einer Mauer eingefasst wurde. Den Hof betrat man durch einen Torbogen. Oben am Bogen hatte ein Vorfahr eine Inschrift eingeritzt: ROCCO ROCCOV I GNEGOVA DJECA 1812 – Rokko Rokkov und seine Kinder 1812. Die Buchstaben waren ungelenk, als hätte jemand sie geschrieben, der des Schreibens kaum mächtig war.

      Doch auch wenn das Haus von außen wie ein Schloss wirkte, verflüchtigte sich dieser Eindruck, sobald man drinnen war. Mate war an Vesnas Ordnung gewöhnt, die manchmal an Pingeligkeit grenzte. Deshalb war er jedes Mal von Neuem irritiert von der allumfassenden Unordnung in Branes Haus. Auf dem Hof lagen überall Bretter, Nägel, Metallteile und Schrauben herum, daneben Außenbordmotoren ohne Abdeckung. Hier fanden sich auch geöffnete Spachteltuben und Rollen eines weißen, filzigen Materials, das Tonko zum Ausbessern von Kunststoffbooten benutzte. Der Eindruck einer Hexenhöhle wurde durch volle Einmachgläser verstärkt. Ursula Rokkov legte Zwiebeln, Kapern, Silberzwiebeln, Oliven und Meerfenchel ein. Die vollen Einmachgläser standen überall – auf dem Boden, der Treppe und der Veranda, der Inhalt war grün, braun und dunkelrot.

      Mate betritt den Hof, horcht, ob er Silvas und Branes Stimmen hört, und schaut sich nach ihnen um. Doch der Hof ist leer. Da er nicht weiß, was er sonst tun soll, ruft er nach Brane.

      Eine schlanke Frau in den Vierzigern mit langen schwarzen Haaren erscheint auf der Veranda im ersten Stock, Ursula, Branes Mutter. Als sie Mate erkennt, lächelt sie freundlich.

      »Brane schläft noch«, sagt sie. »Er ist heute Morgen aus Rijeka zurückgekommen. Er war an der Uni, um sich einzuschreiben. Ist es wichtig?«

      »Vielleicht«, antwortet Mate. »Wir wissen nicht, wo Silva steckt.«

      »Bei uns ist sie nicht«, erwidert Ursula. »Brane ist heute Morgen angekommen und hat sich gleich hingelegt. Warte, ich wecke ihn.«

      Ursula geht ins Haus und Mate schämt sich auf einmal. Brane war gestern nicht in Misto. Er hat die ganze Nacht im Bus gesessen. Und seine Freundin, Mates Schwester, hat sich mit Whiskey-Cola volllaufen lassen und zu Red Red Wine mit Adrian rumgemacht. Mate will Brane fragen, wo Silva steckt, dabei ist er es, der vor Brane ein hässliches Geheimnis hütet.

      »Er kommt gleich«, sagt Ursula, die jetzt wieder auf der Veranda steht. »Er ist noch schnell im Bad.« Sie kommt nicht hinunter in den Hof und bittet ihn auch nicht herein. Sie sieht ihn nur mit ihren hellen, graublauen Augen an, die sie immer noch zu einer attraktiven Frau machen.

      Vor dreißig Jahren war Ursula das hübscheste Mädchen in Misto, behauptete Mates Vater. Das sagte er vor Vesna, aber Mate hatte nie den Eindruck, dass Vesna deswegen eifersüchtig war. Man bewunderte Ursulas Schönheit so, wie man eine griechische Vase bewunderte oder ein archäologisches Artefakt: etwas Schönes, dessen Zeit längst und unwiederbringlich vergangen ist. Wer hätte gedacht, dass sie einmal dort landen würde, am Ende des Dorfes, antwortete Vesna dann immer. Wir dachten alle, die wird es weit bringen, und jetzt? Jetzt ist sie auf Rokkovs Land, mit Tonko, in einem schmuddeligen Haus, bedeckt von einer Schicht aus Plastikstaub.

      So reden Mates Eltern über Ursula. Und während Mate auf Brane wartet, sieht er seine Umgebung durch die Augen seiner Eltern. Überall Unordnung, Rost und Schmutz. Ein Haus, das zerfällt und die Dachziegel verliert. Und mittendrin sie: eine Frau, die sich trotz ihres Alters stolz und aufrecht hält, deren blaugraue Augen ihre einstige Schönheit verraten.

      So bleiben sie stehen, Ursula oben auf der Treppe und Mate unten, bis aus dem Haus Schritte ertönen, dann Wasserrauschen. Schließlich kommt Brane raus, frisch gekämmt und mit feuchtem Gesicht. Als er sieht, wer auf ihn wartet, wird er ganz rot im Gesicht. Bei Silvas Bruder will Brane immer einen guten Eindruck hinterlassen.

      »Ich suche Silva«, sagt Mate. »Weißt du, wo sie ist?«

      »Nein«, antwortet Brane. »Ich bin heute Morgen aus Rijeka gekommen. Ich wollte sie anrufen, wenn ich ausgeschlafen habe.«

      »Wann hast du das letzte Mal mit ihr gesprochen?«

      »Vorgestern.«

      »Weißt du vielleicht, wo sie gestern war?«

      »Sie wollte am Abend zu Hause bleiben.«

      Das hat sie aber nicht gemacht, denkt Mate, aber er sagt nichts.

      »Hoffentlich ist nichts passiert«, sagt Brane.

      »Bestimmt nicht«, antwortet Mate und verabschiedet sich.

      An der Kapelle dreht er sich um. Ursula steht immer noch auf der Veranda und sieht ihm nach.

      Vom Haus der Rokkovs läuft Mate bis zur Kirche, die jedoch verschlossen ist. Er klappert alle Cafés ab. Es ist ein warmer Sonntag und viele Dorfbewohner sitzen draußen. Seeleute auf Urlaub, Studenten, die Ferien haben, die örtlichen Looser mit Ray-Bans. Die Dorfbewohner aalen sich in der Sonne wie Geckos, palavern über Politik, schlürfen Kaffee. Nur Silva ist nicht unter ihnen.

      Schließlich geht Mate an den einzigen Ort, an dem er noch nicht gewesen ist, zur Bäckerei von Adrians Vater. Es ist Nachmittag und die Bäckerei ist geschlossen. Er betritt den Garten von der Hinterseite und findet Adrians Vater, der nach der nächtlichen Arbeit in der Backstube unter dem Feigenbaum ein Nickerchen macht. Mate grüßt und der alte Lekaj antwortet mit einem verschlafenen Murmeln. Mate geht weiter ins Haus.

      Sobald er Adrian sieht, weiß er, dass Silva nicht mehr bei ihm ist.

      Adrian liegt in kurzer Adidas-Sporthose und mit nacktem Oberkörper auf dem Sofa und schaut Fußball. Er ist überrascht.

      Es ist ihm unangenehm, dass Mate nach Silva fragt.

      Adrian weiß nichts. Zugegeben, sie sind am Abend zuvor zusammen gewesen. Ja, sie haben bis elf getanzt. Gegen elf habe Silva vorgeschlagen, irgendwohin zu gehen, wo sie alleine wären. So drückt Adrian es aus, wo sie alleine wären, und es ist ihm deutlich anzusehen, wie peinlich ihm das Gespräch ist. Bis ungefähr zwei seien sie zusammen gewesen, auf Krizev Rat. Beim großen Kreuz, oben auf dem Hügel.

      Sie sind also am Aussichtspunkt beim Kreuz gewesen. Dem Ort, den Generationen von Dorfbewohnern für Sex und Intimitäten genutzt haben. Sobald Adrian das ausgesprochen hat, schämt Mate sich. Manchmal versteht er seine Schwester nicht. An dieses Gefühl kann er sich heute noch erinnern.

      »Wann seid ihr auseinandergegangen?«, fragt er und bemüht sich, sachlich zu bleiben.

      »Vielleicht halb zwei oder zwei. Silva hat gesagt, sie habe es eilig und müsse los.«

      »Nach Hause?«

      »Sie musste früh raus, weil sie irgendwohin fahren wollte.«

      »Eine Reise?«, fragt Mate. »Wohin?«

      »Keine Ahnung«, sagt Adrian. »Du und deine Eltern, ihr müsstet das doch wissen.«

      In diesem Moment hat Mate zum ersten Mal das Gefühl, dass sich etwas zusammenbraut. Während im Fernseher der AC Florenz Inter Mailand angreift oder Inter Lazio Rom, fühlt er zum ersten Mal in


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