Blut und Wasser. Jurica Pavicic

Blut und Wasser - Jurica Pavicic


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ins Schlafzimmer und legen sie aufs Bett, wo sie sich wieder zusammenrollt.

      Jakob geht danach auf den Balkon, wo er nun schon den zweiten Tag in Folge verbringt. Auf das Geländer gestützt starrt er in die Dunkelheit, als glaubte er, er müsste nur lange genug schauen, um seine Tochter zu finden. Mate stellt sich neben ihn und Jakob legt ihm die Hand auf die Schulter.

      »Sei ihr nicht böse«, sagt Jakob.

      »Wem?«

      »Du weißt schon«, sagt Jakob. »Es ist für uns alle schwer.«

      Eine Weile schweigen sie. Dann fragt Jakob:

      »Das in der Regenrinne. Hast du davon gewusst?«

      »Nein.«

      »Du hast nicht gewusst, dass sie Drogen versteckt?«

      »Ich wusste, dass sie Gras raucht. Ziemlich viel.«

      »Das war aber kein Gras, oder?«

      »Nein, Papa. Das war etwas viel Schlimmeres.«

      »Warum hast du uns nichts gesagt?«

      »Hättest du das an meiner Stelle gemacht?«

      »Nein.«

      »Dann weißt du, wieso.«

      Schweigend stehen sie nebeneinander, als würde die Nachtluft sie beide beruhigen. Mate beginnt zu frieren. »Ich lege mich hin«, sagt er.

      »Ich bleibe noch«, antwortet Jakob und starrt weiter ins Dunkel. Mate geht ins Haus, wo es noch immer nach Brathähnchen riecht. Bevor er sich ins Bett legt, öffnet er die Schlafzimmertür. Vesna liegt noch immer zusammengerollt auf dem Bett. Aber sie schluchzt nicht mehr. Die Beruhigungstabletten wirken.

      In seinem Zimmer wirft sich Mate angezogen auf das Bett und starrt an die Decke. Sein Körper braucht Schlaf, aber genauso wenig wie seine Eltern wird er heute einschlafen.

      * * *

      In den folgenden Tagen wurde Silvas Verschwinden zu einer Nachricht. Damals waren die Medien noch anders als heute. Vor dem Haus der Velas standen keine Übertragungswagen und keine Reporterhorde mit Mikrofonen. Doch in allen Zeitungen erschien Silvas Bild, und in der Nachrichtensendung des staatlichen Fernsehens wurde ebenfalls Silvas Bild gezeigt und die Bevölkerung zur Mithilfe aufgerufen. Nach einer Woche wussten alle von Silvas Verschwinden.

      In dieser Woche durchkämmte die Polizei den Ort und die Umgebung. Mit Spürhunden suchten sie den Hügel ab, wo Silva mit Adrian die letzte Nacht verbracht hatte. Sie durchkämmten Rokkovs Land, die Berghänge und die Prosika-Schlucht, wo früher einmal Freiheitskämpfer im Hinterhalt gelegen hatten, um türkische Karawanen zu überfallen. Inspektor Schain ging von Straße zu Straße. Er saß in jedem Haus in Misto und befragte die Bewohner, jeden einzelnen. Er fragte, wo sie in der Nacht gewesen seien, ob sie etwas gehört oder gesehen hätten. Alle Informationen schrieb er in das schwarze Buch mit Kunstledereinband, das Mate am ersten Abend bei ihm gesehen hatte.

      Nach einer Woche zog sich die Polizei aus Misto zurück. Am siebten Abend teilte Schain ihnen mit, in Misto gebe es für die Polizei nichts mehr zu tun – sie hätten alles durchsucht und alle Zeugen befragt. Er, Schain, glaube, dass Silva wirklich abgereist sei, so wie sie es Lekaj gegenüber angekündigt habe. Entweder sei sie entführt worden oder ausgerissen, und er würde versuchen herauszufinden, wo sie sei.

      Die folgenden Tage meldete Inspektor Schain sich nur noch telefonisch. Er teilte ihnen mit, dass sie auf Bus und Zugbahnhöfen ermitteln würden, in Motels und an Grenzübergängen. Sie befragten Busfahrer, Fahrkartenverkäuferinnen, Schaffner und Grenzbeamte. Sie kümmerten sich auch um die Videoüberwachung, aber es gebe so viele VHS-Kassetten, dass sie damit nur langsam vorankämen.

      Nach zwölf Tagen hatte die Polizei noch nichts gefunden und Schains Berichte wurden von Mal zu Mal formeller und kürzer.

      Bereits am fünften Tag hatte Jakob sich in Silvas Zimmer zurückgezogen und angefangen, ihre Sachen zu durchwühlen. Er verließ das Zimmer mit dem besten Foto von Silva, das er hatte finden können. Es war ein relativ neues Bild. Silva schaute direkt in die Kamera – eingebildet und frech – mit einer Haarsträhne über dem linken Auge. Keiner von ihnen wusste, wer das Bild gemacht hatte und wann. Auf einmal erschien ihnen Silvas Leben voller Geheimnisse, und das Foto war nur eins davon.

      An diesem Morgen klebte Jakob das Foto auf ein Blatt DIN-A4-Papier und schrieb in ordentlicher Druckschrift darunter: VERMISSTE PERSON GESUCHT.

      Im Copyshop neben der Post machte er achthundert Kopien. Am nächsten Morgen schlug Mate ihm vor, die Zettel gemeinsam in der Gegend aufzuhängen.

      Jeden Morgen setzten sie sich ins Auto und fuhren stundenlang durch die Gegend. Die Zettel brachten sie an Bushaltestellen an, vor Postfilialen, an Schaufenstern, in Touristenbüros und öffentlichen Gebäuden. Zuerst hielten sie sich an Ortschaften entlang der Küstenstraße in der Umgebung von Misto. Dann weiteten sie den Radius aus. Am Ende der zweiten Woche hatten sie die Straßen nach Vrgorac, Imotski und in die Herzegowina ausgestattet. Die folgenden zehn Tage fuhren sie auf der Küstenstraße Richtung Norden, nach Zadar und Rijeka, dann das Tal der Neretva entlang in Richtung Sarajevo. Sie beklebten Imotski, Kardeljevo, Listica und Duvno. Eines Morgens setzte Jakob sich allein ins Auto und fuhr Richtung Bosnien. Er kam am späten Abend wieder nach Hause und verkündete, er habe die Zettel an der Straße quer durch Bosnien aufgehängt, von Kupres über Jajce bis nach Banja Luka.

      Mate übernahm Split. An einem verlängerten Wochenende hängte er dreihundert Zettel in der Stadt auf. Er streifte durch die Plattenbausiedlungen aus sozialistischen Zeiten, durch Shoppingmalls und Gewerbegebiete, Hotelrezeptionen und Schulhöfe. Er entdeckte Ecken, die er noch nicht gekannt hatte: unendlich groß erscheinende Neubauviertel, Baustoffhandlungen, reihenweise Vulkaniseure und Ziegeleien am unorganisierten Stadtrand. Als er fertig war, hing Silvas Bild in allen Schuleingängen, an allen touristisch interessanten Orten, an den Pforten von Werft, Hafen und Zementfabrik.

      Bis zum darauffolgenden Wochenende kopierte Jakob weitere dreihundert Suchmeldungen. Er fuhr alleine weg und kam erst am nächsten Tag wieder. Er habe Ljubljana und Zagreb ausgestattet.

      Von der Polizei sahen und hörten sie eine Zeit lang nichts. Dann rief Schain eines Nachmittags an. Er hatte nichts Konkretes. Er deutete nur geheimnisvoll an, es hätten sich neue Umstände ergeben und er müsse sie, alle drei und einzeln, in Split erneut vernehmen. Das klang in Mates Ohren nicht gut.

      Jakob fuhr als Erster. Still und noch bedrückter kehrte er am Abend zurück. Er verriet Mate nicht, was in Split geschehen war. Stattdessen zog er sich mit Vesna ins Schlafzimmer zurück, wo sie miteinander flüsterten. Als Vesna herauskam, hatte sie ganz rote Augen.

      Mate spürte, dass etwas nicht in Ordnung war, doch hatte er nicht den Mut zu fragen, was. Am nächsten Tag fuhr Jakob erneut nach Split, und als Mate anbot mitzufahren, lehnte Jakob das entschieden ab. Er blieb den ganzen Tag weg und als er zurückkam, war seine Stimmung noch weiter gesunken.

      Schweigend aßen sie zu Abend. Nach dem Essen warf Mate die Reste von gedünstetem Kraut in den Müll, er spülte und trocknete die Gläser ab. Dann bat Jakob ihn, sich noch einmal an den Tisch zu setzen.

      »Hast du den Namen Cvitkovic schon einmal gehört?«, fragte er. Oder ob Silva je den Namen Cvitko erwähnt oder ob er den Mann je in Silvas Gesellschaft gesehen habe.

      »Nein«, antwortete Mate und das war die Wahrheit. Aber Jakob sah ihn so eindringlich an, dass Mate sich nicht sicher war, ob er ihm glaubte.

      »Wenn du irgendetwas darüber hörst«, sagte er, »gib Bescheid.«

      Dann wiederholte er: »Sag es zuerst mir. Mir und niemandem sonst. Hast du gehört? Und ich sage es dann Mama und der Polizei.«

      * * *

      Zwei Tage später bestellt Schain Mate zum Gespräch ein. In dieser Woche hat Mate vormittags Schule und so geht er nach dem Unterricht zum Präsidium. Er ist schon um Viertel nach eins an der Pforte, obwohl Schain ihn erst um zwei einbestellt hat. Er drückt sich am Eingang herum, bis der uniformierte Polizist an


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