Blut und Wasser. Jurica Pavicic

Blut und Wasser - Jurica Pavicic


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nach Hause fahren. Doch dann kommt ein weiterer Kunde. Es ist ein Junge mit wuscheligen Haaren und hängenden Schultern. Er spricht das Mädchen schüchtern an, als würde er es nicht kennen oder ihm nicht trauen. Er sagt etwas und sie nickt.

      Er reicht ihr Geld und sie ihm ein Heftchen. Und dann fragt er etwas. Er fragt so laut, dass Jakob ihn hören kann. »Wo ist denn Silva?«

      Das Mädchen antwortet leise, sodass Jakob die Antwort nicht versteht. Aber natürlich begreift er. Der Kunde kennt Silva. Er wollte seinen Stoff eigentlich bei Silva kaufen.

      Jakob wartet, bis der Junge gegangen ist, dann verlässt er den Hauseingang. Er läuft am Museum der Revolution und der Hauptpost vorbei, erreicht den Platz beim Theater, wo er plötzlich spürt, wie sein Herz Sprünge macht und er keine Luft mehr bekommt.

      Er lehnt sich an eine Hauswand und schluckt, trocken ohne Wasser, eine Beruhigungstablette. Eine Zeit lang läuft er ziellos durch die Stadt, bis die Tablette zu wirken beginnt. Dann setzt er sich eine halbe Stunde ins Auto, bis sein Blutdruck sich beruhigt hat. Erst dann fährt er nach Misto.

      * * *

      Als er ankommt, geht er nicht gleich ins Haus. Er parkt das Auto und läuft hinunter ans Wasser. Er läuft bis zu den letzten Häusern am Ufer entlang und dann bergauf.

      Nach zehn Minuten ist er auf Krizev Rat, an der Stelle, wo seine Tochter das letzte Mal gesehen wurde.

      Das Kreuz steht auf einem Hügel oberhalb des Dorfes. Mönche des Ordens des heiligen Spyridon hatten es aufgestellt, als die Reblaus wütete. Es war eine Gabe an den Gott, der ihnen die Plage geschickt und in seiner weisen Mildtätigkeit alle Weinberge vernichtet hatte. Das Kreuz war ein göttlicher Schwur der Ärmsten, und so sieht es auch aus: vier schmucklose Kalksteinbalken auf einem treppenartigen Podest. Auf diesen Stufen sitzen im Sommer die etwas unternehmungslustigeren Touristen und betrachten die Landschaft. Von hier sieht man Misto und die Bucht, die erste Inselkette und die scharfkantigen Felsen des Gebirges.

      Jakob setzt sich auf eine Stufe und schaut hinunter auf Misto. Im Westen geht die Sonne unter. Die leuchtende Scheibe versteckt sich hinter einer Felsenkette und rötet den Himmel. Es ist absolut windstill, die Meeresoberfläche ist glatt wie ein Spiegel, die Häuser und den Hafen erkennt man kaum im nachmittäglichen Dunst. Zu Jakobs Füßen erstreckt sich die alte Zisternenanlage. Früher hatte man die Hänge zementiert, um für den Sommer Regenwasser in Zisternen zu sammeln. In den Sechzigern wurde Misto dann an die Wasserversorgung angeschlossen und die Zisternen wurden nicht mehr gebraucht. Auf dem betonierten Abhang wachsen Moos und Flechten und aus den Rissen wuchern Grasbüschel und Sträucher.

      Als junger Mann war Jakob mit der gleichen Absicht wie Silva in jener Nacht hier heraufgekommen. Paare kamen hierher, um fernab von neugierigen Blicken zu knutschen und zu fummeln. Das letzte Mal war Jakob mit Vesna am Kreuz gewesen, ein paar Monate vor ihrer Hochzeit. Sie hatten Jakobs Jacke auf den Boden gelegt, Sex gehabt und dann aneinandergeschmiegt auf den Sonnenaufgang gewartet. Es war kalt gewesen.

      Zwanzig Jahre später steht er wieder an dieser Stelle. Doch er denkt nicht an jenen frühen Morgen und wie er, nur im T-Shirt, gezittert hatte, trotz Vesnas Arm um seine Schultern. Er denkt an Silva, die am 23. September genau hier gewesen ist. Die Adrian zum Rumfummeln hierhergeführt hat, oder er sie. Und dann war etwas passiert. Hier oder woanders.

      Er steht auf und schaut sich um. Er untersucht das Gebüsch um das Kreuz herum und entdeckt eine leere Kondomverpackung. Ein Schauer überläuft ihn. Dann entdeckt er eine weitere weggeworfene Packung und noch eine. Außerdem findet er benutzte Kondome, erst eins, dann noch eins. Jakob kann nicht sagen, wie lange sie da schon liegen. Aber es sind unzählige. Das Gebüsch unter dem Kreuz archiviert seit Jahrzehnten geduldig die Spuren von Sex.

      Er schaut sich um und versucht sich vorzustellen, wo genau Silva und Adrian gelegen haben. Er sucht einen Flecken festgetrampelter Erde ohne Steinchen und Gestrüpp. Er entdeckt eine Stelle, die ihm als die geeignetste erscheint. Er beugt sich hinunter und befühlt sie, als hätten Gras und Erde womöglich Silvas Körperwärme gespeichert. Mit einem Stock teilt er die Büsche ringsum. Dann erregt etwas seine Aufmerksamkeit.

      Unter einem Busch liegt ein länglicher Gegenstand aus milchig weißem Kunststoff. Jakob hebt ihn auf. Es ist eine Einwegspritze.

      Er untersucht sie genauer und versucht festzustellen, wie alt sie ist. Schmutzig und zerkratzt muss sie hier schon länger liegen. Er wünscht sich, dass es so wäre. Aber er kann nicht sicher sein.

      In der Zwischenzeit geht am Horizont die Sonne unter. In der Dämmerung verlassen Boote den kleinen Hafen, die ortsansässigen Fischer fahren hinaus. Die Boote gleiten durch das stille, tiefschwarze Wasser, ein leises beständiges Knattern von Dieselmotoren liegt über der Bucht. Um halb acht läutet Sankt Spyridon zur Abendmesse. Und wie zum Trotz erklingt aus der Kaserne die Trompete zum Einholen der Fahne. Militär und Kirche führen einen Zweikampf um die Seelen der Ortsbewohner, wie jeden Abend. Misto beschließt einen weiteren Tag, einen gewöhnlichen Tag, so gewöhnlich, dass es Jakob einen Stich versetzt.

      In der Hand hält er immer noch die hässliche, gebrauchte Spritze. Er weiß nicht, was er damit machen soll, und steckt sie in die Tasche.

      Er läuft den steilen Eselspfad hinunter und dann den etwas breiteren Feldweg entlang des Wassergrabens. Schon bald erreicht er die ersten Häuser.

      Wenn Adrian die Wahrheit sagt, wurde Silva genau hier zum letzten Mal gesehen. Sie ist den gleichen Weg gegangen, ist auf die gleichen Steine und Erdklumpen getreten. Dann ist sie um eine Ecke gebogen und verschwunden, wie eine Dunstwolke, wie Schaumnebel.

      Er erreicht die erste Kreuzung. Hier steht ein Abfallcontainer.

      Er sieht sich um. Niemand ist zu sehen.

      Er wickelt die Spritze in ein Taschentuch und wirft sie in den Container.

      Inzwischen ist es dunkel. Hinter den Fenstern flimmern Fernseher und man hört die Stimme des Nachrichtensprechers. Die Bergleute im Kosovo streiken noch immer. Der Nachrichtensprecher verkündet eine weitere düstere Nachricht.

      Zu Hause zieht Jakob im Flur leise Jacke und Schuhe aus. Er öffnet die Tür einen Spalt und sieht Mate über seine Hausaufgaben gebeugt. Mate schaut fragend auf.

      Jakob geht ins Schlafzimmer und Vesna folgt ihm. Es ist ihr anzusehen, dass sie ihn fieberhaft erwartet hat. »Hast du ihn gefunden?«, fragt sie. »Hast du mit ihm gesprochen?«

      Jakob zögert, unsicher, was er sagen soll.

      »Ich habe ihn gefunden.«

      »Und? Was hast du erfahren?«

      Wie soll er es am besten formulieren? Er entscheidet sich für die schmerzloseste Variante.

      »Nichts habe ich erfahren«, sagt er. »Der Mann hat noch nie von Silva gehört. Er hat sie auch auf dem Foto nicht erkannt.«

      »Ich habe es gewusst«, sagt Vesna. »Ich kenne doch meine Silva. Das hat ihr einer untergeschoben.«

      Sie drückt die Schlafzimmertür ganz zu und wiederholt, aber leiser, damit niemand sie durch die Tür oder die Fenster hören kann: »Das hat ihr jemand untergeschoben. Und dieser Jemand ist hier, hier in Misto.«

      4 Mate (1989)

      Anfang November wurden die Tage deutlich kürzer und ein später dalmatinischer Herbst umfing Misto.

      Schon Ende September hatten die Strandcafés geschlossen und nach ihnen auch die einzige Pizzeria und zwei der drei Kneipen im Ort. Anfang Oktober fuhren weniger Busse, und das Touristenbüro schloss seine Türen. In der zweiten Oktoberhälfte verdüsterte sich der Himmel und es setzte ergiebiger Regen ein, der tagelang andauerte und alles durchweichte.

      Die zermürbende Sintflut ergoss sich über Krizev Rat und die Kapelle Stella Maris, die Prosika-Schlucht und Rokkovs Land, die Macchia und die Kaserne, die Berge und den Kanal. Auch die letzten trockenen Flecken verwandelte der Regen in Schlammlöcher, und in dem porösen, spitzen Gestein entstanden Pfützen und unterirdische Tümpel, die erst im Sommer austrocknen würden.


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