Blut und Wasser. Jurica Pavicic

Blut und Wasser - Jurica Pavicic


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könne die Latte im Schuppen der Lekajs finden. Die Person hatte exakt die Stelle beschrieben, wo die Latte lag.

      Als Vesna das hört, verzieht sie das Gesicht vor Entsetzen. Mate ist wie vom Donner gerührt. Die Vorstellung, Silva könnte tot sein, ist bis zu diesem Augenblick nur trockene Theorie gewesen, nicht einen Moment hat er das wirklich geglaubt.

      »Und?«, fragt Vesna. »Haben sie die Latte gefunden?«

      »Das haben sie«, antwortet Jakob. »Genau an der beschriebenen Stelle. Unter einem Fass, hinter alten Besen. Die Latte entspricht der Beschreibung, es ragen einige Nägel heraus, dadurch kann sie zur tödlichen Waffe werden. Es gibt Flecken von weißer Farbe und Tropfen von Bootslack, aber auch Blutspuren. Sie wissen noch nicht, um welche Blutgruppe es sich handelt.«

      Während er seinem Vater zuhört, formiert sich in Mates Magen ein bitterer, kalter Klumpen. Er versucht, sich Silvas Gesicht vorzustellen, blutig geschlagen mit der Latte. Er versucht, sich Adrians mörderische Wut vorzustellen. Doch vor sich sieht er einen anderen Adrian, einen Adrian, der im Unterhemd träge ein italienisches Fußballspiel schaut.

      »Und was sagt er?«, fragt Mate. »Was sagt Adrian?«

      »Nichts Nützliches«, antwortet Jakob. »Er leugnet alles. Er weiß nichts von nichts. Er behauptet, die Latte nie gesehen zu haben, und er wisse auch nicht, wie sie dahin gekommen sei. Er behauptet weiterhin, sich um zwei von Silva getrennt zu haben. Und da habe sie noch gelebt.«

      »Und was jetzt?«, fragt Vesna.

      »Nichts. Er ist dort, bei der Polizei. Sie verhören ihn.«

      »Was hat Schain gesagt?«, will Vesna wissen.

      »Ich habe nicht mit Schain gesprochen«, antwortet Jakob. »Sondern mit Tenzer. Er sagt, sie werden ihn knacken. Wenn er etwas getan hat, werden sie ihn knacken. Sie werden ihn nicht gehen lassen, bis er gesteht. Das hat er gesagt.«

      Jakob setzt sich hilflos. Aber Mate kann nicht einfach rumsitzen und warten. Er zieht seine Turnschuhe an, verlässt das Haus und geht die Gasse hinunter zum Kirchplatz.

      Er bekommt die Bilder nicht aus dem Kopf. Die Latte und auf der Latte Blut – Silvas Blut. Silva, die in irgendeinem Loch oder einer Felsspalte liegt, bedeckt von Zweigen – und während er und seine Eltern langsam verzweifeln, verfault Silva langsam, bis sie irgendwann nur noch ein unkenntlicher Klumpen ist.

      Darüber denkt Mate nach, als er sein Ziel erreicht. Lekajs Bäckerei ist geschlossen. Davor steht der Kombi des Bäckers. Alle vier Reifen sind zerschnitten. An eine Seite hat jemand das Wort MÖRDER gesprayt. Über die ganze Seite des Wagens in dunkelblauen Großbuchstaben.

      * * *

      Adrian wurde drei Tage später entlassen. Er kam ohne Ankündigung nach Hause, genauso wie er verhaftet worden war. Diejenigen, die Zeugen seiner Rückkehr wurden, sagten, er sei einfach aus dem Bus gestiegen, ohne Begleitung und ohne dass jemand ihn empfangen hätte. Er sei humpelnd nach Hause gegangen, habe sich auf das Sofa gelegt und sein T-Shirt ausgezogen, und unter dem T-Shirt – hieß es – habe man die Spuren von Schlägen gesehen.

      Unglücklicherweise erfuhr Vesna die Nachricht als eine der Ersten. Noch schlimmer, sie erfuhr es in der Schule von einem ihrer Schüler. An dem Montag hatte sie auf Drängen Jakobs wieder angefangen zu arbeiten. Vollgepumpt mit Tabletten war sie am Morgen fast nicht aus dem Bett gekommen. In der dritten Stunde, als sie den Kindern gerade die Topografie der Kordilleren erklärte, erzählte ihr einer der Siebtklässler, er habe am Morgen Adrian auf der Straße gesehen. Vesna beendete die Stunde und raste nach Hause. Die Entrüstung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben: Was werdet ihr unternehmen?

      Seit dem Morgen hatte es geregnet. Die Bäckerei der Lekajs blieb den ganzen Tag zu, und am Haus waren die Fensterläden geschlossen. Adrian hatte sich ins Haus verzogen und kam nicht raus. Der einzige Mensch, der wusste, was mit Silva geschehen war, saß hier – gleich nebenan, eine Straße weiter, hinter geschlossenen Fensterläden. Er war in Reichweite und sie konnten nichts tun.

      Mate erinnert sich an diesen unerträglichen Nachmittag. Jakob saß am Küchentisch und stierte hilflos und unentschlossen vor sich hin. Vesna durchbohrte ihn erbost mit Blicken. Sie erwartete etwas – schwer zu sagen, was: Blutrache, den Fehdehandschuh, eine Entführung, ein durch Folter erzwungenes Geständnis. Was auch immer sie erwartete, Jakob tat es nicht, weil er gar nichts tat. Er saß hilflos am Tisch, starrte an die Wand, auf den kolorierten Jesus mit den verträumten Augen. Er wartete darauf, dass Jesus eines seiner biblischen Wunder vollbrachte. Zum ersten Mal im Leben hatte Mate Mitleid mit seinem Vater. Das war nicht mehr der erwachsene, reife, immer beschützende Vater. Mate sah einen neuen Vater, der selbst ein hilfloses Kind war.

      * * *

      An diesem Abend kommt Gorki Schain. Er ruft nicht an, sondern kommt unangemeldet persönlich vorbei. Er setzt sich an den Tisch und lehnt den angebotenen Kaffee ab. Unumwunden sagte er: »Wir mussten Adrian gehen lassen.«

      Sie haben nichts gegen ihn gefunden. Er hat den Lügendetektortest einwandfrei bestanden. Seine Fingerabdrücke waren nicht auf der Holzlatte, nicht einmal im Schuppen.

      »Wessen Blut ist auf der Latte?«, fragt Vesna.

      »Die Blutgruppe ist Null negativ«, antwortet Schain. »Wie Silvas. Aber das ist die häufigste Blutgruppe, zwei Fünftel der Bevölkerung haben Null negativ.«

      »Und der anonyme Anruf? Woher kam der?«, fragt Vesna.

      »Aus Misto, so viel wissen wir«, sagt Schain. »Mehr nicht.«

      »Jemand weiß es«, sagt Vesna. »Jemand hat es gesehen. Jemand aus Misto. Und jetzt schweigt er.«

      »Vielleicht hat der Anrufer es gesehen, vielleicht nicht. Die Menschen begehen am Telefon so manche Bösartigkeit.«

      »Und die Latte?«, mischt Mate sich ein, auf einmal erwachsen, reif, abgebrüht. »Die Latte ist nicht übers Telefon da hingekommen.«

      »Das stimmt. Die Latte können wir nicht erklären.«

      »Und was jetzt?«

      »Wir arbeiten weiter daran.«

      »Und – er?«, fragt Vesna. »Der Mörder? Der spaziert draußen frei herum?«

      »Wenn er der Mörder ist«, antwortet Schain. »Ja, er ist im Moment in Freiheit.«

      Schain bricht auf. Im Flur dreht er sich noch einmal um. »Es ist noch nicht vorbei«, sagt er. »Wir machen weiter.« Dann zieht er seine Jacke an und gibt jedem die Hand, auch Mate. Bevor er zur Tür hinausgeht, stellt Vesna die Frage, die ihnen allen auf der Zunge liegt: »Und was denken Sie?«

      »Worüber?«

      »Sie wissen schon. Glauben Sie, er war es? Lebt sie noch? Oder hat er sie umgebracht?«

      »Ich weiß es nicht.«

      »Das ist mir klar. Aber was denken Sie? Was sagt Ihnen, wie sagt man noch, Ihr Bauchgefühl?«

      Mate erinnert sich an diesen Moment. Der Inspektor steht zögernd an der Tür, als würde er seine Worte abwägen.

      »Ich weiß es wirklich nicht«, sagt er schließlich. »Meine Intuition sagt mir nichts.«

      »Ich glaube, Sie wissen es«, erwidert Vesna. »Sie wissen es, aber Sie dürfen es mir nicht sagen.«

      »Ich weiß es wirklich nicht.«

      »Doch. Ich weiß, dass Sie es wissen«, beharrt Vesna und schließt ohne Abschied die Tür hinter Schain.

      Bald darauf fasst Mate einen Entschluss. Wenn sein Vater nichts unternimmt, dann wird er etwas tun.

      Er wartet, bis seine Eltern sich in ihr Schlafzimmer zurückziehen. Gegen ein Uhr schlüpft er in seine Turnschuhe und zieht eine dunkle Trainingsjacke mit Kapuze an. Er stiehlt sich aus dem Haus und läuft zum Haus der Lekajs hinunter.

      Auf dem Grünstreifen neben der Straße parkt der alte Genossenschaftslaster. Den hatten die Olivenbauern vor langer Zeit angeschafft, als die Oliven noch zur


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