Corona in Buchenwald. Ivan Ivanji
Du kennst ja die schöne Natur und die Berge rundherum gut und könntest sie in deinen Worten beschreiben, aber darum geht es gar nicht. Ein Kellner hat mir erzählt, dass die Kuren vor dem Weltkrieg nicht nur für die Heilung von Nieren- oder Darmerkrankungen oder Verdauungsbeschwerden berühmt waren. Das Wasser stand auch im Ruf, gegen Unfruchtbarkeit zu wirken, im damaligen Verständnis also Frauen zu helfen, denen es nicht gelang, schwanger zu werden. Das war allerdings nur die offizielle Version für die Ehemänner. Dass die Unfruchtbarkeit am Mann liegen könnte, war damals ja undenkbar, für die Serben, die sich als Superhelden fühlten, ganz besonders. Nie hätte sich ein Mann auf ein derartiges Versagen hin untersuchen lassen. Jedenfalls frequentierten deshalb gesunde, junge Männer den Kurort, mitunter von den Damen eigens dafür engagiert, die auch gern die Hotelkosten für sie trugen, oder einfach abenteuerlustige Herren, die auf unverbindliche sexuelle Abenteuer mit feinen Damen aus waren. Das wäre doch ein schönes Thema für deinen Vortrag, Papa, für ein derartiges Treiben muss gar nicht die Pest verantwortlich sein, es reicht schon Zeugungsunfähigkeit.«
»Nein, Herr Redakteur«, sagt Sascha. »Du bist es wohl gewöhnt, deinen Mitarbeitern Themen vorzugeben. Aber ich werde so etwas nicht erzählen, sicher nicht hier.«
»Bist du so prüde? So kenne ich dich gar nicht. Dann vielleicht wie du die Befreiung aus dem Lager erlebt hast?«
»Das wird der russische Oberst sicher morgen erzählen, er hat ja tatsächlich Kaninchen ins Lager gebracht, das erste Fleisch, das wir damals gegessen haben. Mila, dich lassen wir schon wieder nicht zu Wort kommen.«
»Ihr unterhaltet mich gut«, beruhigt die junge Frau. Vielleicht stimmt das sogar, sie macht jedenfalls keinen gelangweilten Eindruck.
»Was wird es dann sein, Papa?«
»Das sage ich dir nicht, sonst verdirbst du es mir im Voraus mit Zusatzvorschlägen. Du wirst es wie alle anderen hören, wenn ich an die Reihe komme. Mila, erzähl uns doch von deiner Kindheit und wie du zu diesem für mich unbegreiflichen Beruf gekommen bist. Ich werde nie ganz verstehen, was ein Algorithmus ist …«
Erst gegen Mitternacht geht Sascha zurück auf sein Zimmer und schaut sich das Inventar der Hotelbibliothek an. Er bestellt sich »Eine Reise« von H. G. Adler aufs Zimmer.
Über den Bildschirm flimmert eine neue Nachricht für alle. Die Testergebnisse aller Gäste seien negativ. Im Laufe des nächsten Tages werde man noch je einen weiteren Test abnehmen, wenn wieder alle Tests negativ seien, könne man bedeutende Erleichterungen vorerst zumindest innerhalb des Hotels vorsehen. Eine weitere gute Nachricht, Herr Franco Miculetti sei nicht mehr an das Beatmungsgerät angeschlossen, sein Zustand sei stabil.
Sascha atmet auf. Er hat es sich nicht anmerken lassen, aber er war sehr besorgt, schließlich sind sie im selben Auto wie Franco angereist. Allerdings sind sie hinter Franco gesessen, seine Enkelin neben ihm. Die beiden haben sich miteinander unterhalten, Gesicht an Gesicht. Das Virus scheint ein wenig wählerisch zu sein. Im Hotel lässt es sich gut aushalten, in den überfüllten Krankenhäusern ist es sicher schlimm. Sehr schlimm. Das wäre kein schönes Ende, an einer doppelten Lungenentzündung langsam zu ersticken. Schrecklicher, weil um so viel langsamer als in den Gaskammern. Literarisch und dramaturgisch gesehen wäre es allerdings stimmig.
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