Corona in Buchenwald. Ivan Ivanji

Corona in Buchenwald - Ivan Ivanji


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Bad Boy ist, aber streng, groß, wie heute solche Leute in amerikanischen Filmen aussehen, nur eben im damaligen Kostüm. Natürlich ist er mit einer schönen Frau verheiratet, Typ Vamp, lange schwarze Haare, nicht mehr ganz schlank, aber immer noch verführerisch, man nennt sie Madonna Ambruogia, heute wäre das Ambrogia. Und dann haben wir Guilfardo, den Deutschen. Ich glaube, der hieße heute einfach Josef. Um es einfacher zu machen, will ich den Deutschen einfach der Deutsche nennen, die Gattin des Tycoons die schöne Frau und Gasparello den reichen Mann, die Bezeichnung »reicher Mann« verwendet ja schon die Bibel. Ich möchte nicht ständig über diese Namen stolpern und auch ihr, meine lieben Zuhörer, könnt so leichter dem Strang der Erzählung, den Ereignissen folgen.

      Der reiche Mann betreibt vielerlei Handel en gros und en détail, und da er sehr viel Geld hat, verborgt er es auch gerne. Er behauptet stets, er handle als Wohltäter, aber einerseits verpflichtet er sich auf diese Weise Menschen, das ist immer nützlich, andererseits nimmt er Zinsen. Heute ist es nicht anders, die Reichen werden immer reicher. Unser reicher Mann aus Mailand musste geschäftlich viel reisen. Seine Frau blieb dann allein mit dem zahlreichen Personal in ihrem großen Palast. Sie langweilte sich nie. Sie hatte viel Sinn für Zeitvertreib. Und sie hatte stets im Sinne, was ihre sinnlichen Genüsse befriedigen konnte. Das war stadtbekannt, wie üblich wusste jedermann von ihrer Freizügigkeit, nur ihr Ehegatte nicht. Manchmal versuchte jemand ihm zuzutragen, was sie hinter seinem Rücken trieb, doch er wies solches Gerede stets empört zurück. Dass sie vor der Ehe leicht zu haben gewesen war, wusste er natürlich, war jedoch überzeugt, sie sei ihm ewig dankbar, weil er sie und ihre Ehre gerettet hatte und ihr ein Leben im Wohlstand ermöglichte.

      Die Sitten waren formal streng, die allgegenwärtige Kirche noch strenger. Mädchen hatten ihre Unschuld, Frauen Keuschheit zu bewahren, selbst wenn die Wahrung dieser Tugenden mit dem Tode bedroht sein sollten. Andererseits gab man seinen Begierden im Geheimen und in gewissen Kreisen gar nicht so geheim nach. Ich möchte es nicht weiter ausmalen, das könnt ihr selbst. Ich jedenfalls glaube, dass man in freien Gesellschaften sexuell weniger aktiv ist als in Diktaturen. Die Kommunisten hatten, bevor sie an die Macht kamen, den Beischlaf noch mit dem Trinken eines Glases frischen Wassers beschrieben, wie die meisten von euch wohl wissen. Lenin war wohl ein guter Liebhaber, aber unter Stalin wurde man sehr, sehr sittenstreng. Kamerad Igor weiß sicher ein Lied davon zu singen.«

      Igor fühlt sich angesprochen, lange genug ist er still gewesen, sofort klinkt er sich ein: »Obwohl es heißt, dass die Russen gut singen können, muss ich gestehen, dass ich kein guter Solosänger wäre, aber was Philippe sagte, möchte ich bestätigen. In meiner Jugend war es allerdings ein Problem, dass man nicht wusste, wo man zu zweit zur Sache kommen konnte. Draußen war es meistens zu kalt, in den Grünanlagen war man außerdem vor der Polizei nie sicher, und Wohnraum …«

      Marko unterbricht ihn: »Bitte, heb dir die Beschreibung der sowjetischen Verhältnisse für deinen Auftritt auf, Oberst. Setzen Sie … pardon, setz deine Geschichte fort, Botschafter.«

      Die Anrede mit dem militärischen Rang und dem Titel kommt ihm geschickt vor, so muss er die Respektspersonen nicht mit dem Vornamen ansprechen.

      »Was die schöne Frau aus unserer Geschichte trieb, könnt ihr euch wohl ausmalen. Und stellt euch das Treiben damals vor, wie es eure Fantasie euch gönnt, wie ihr es selber gerne hättet. Ein Filmemacher würde die Szenen heute wohl mit gewagten Szenen und Schnitten darstellen. Stellt euch das so vor, während ich rede. Vor Kurzem las ich übrigens im Internet, die Stadt New York habe angesichts der Pandemie empfohlen, sich selbst als sichersten Sexpartner zu nehmen. Masturbieren sei jedenfalls weniger riskant als küssen, denn man könne ja nie wissen, ob der oder die andere nicht auch ohne Symptome ansteckend sei …«

      All das trägt der ehemalige Botschafter ruhig und sachlich vor, als erklärte er ein Non-Paper seiner Regierung. Dann macht er aber doch eine kleine Pause, bevor er fortsetzt: »Boccaccio deutet das alles natürlich nur an, für seine Zeit ist bereits das viel zu viel. Ich zitiere nicht sein ›Decamerone‹, sondern benütze nur die Figuren und Handlung einer seiner Erzählung.

      Der Deutsche also ist jung, hübsch, klug, macht mal da, mal dort Geschäfte. Er würde in Hollywood von einem der Stars gespielt werden, die in den romantischen Komödien mit erotischem Einschlag auftreten, Brad Pitt oder so einer, da kenne ich mich weniger aus. Er sucht noch einen endgültigen Aufenthaltsort. Obwohl er ein Fremder ist, wirkt er vertrauenserweckend, er hat schon die eine oder andere kleinere Summe ausgeliehen und jedes Mal pünktlich mit Zinsen zurückerstattet. Schon zweimal war er beim reichen Mann eingeladen. Der Gastgeber mag den netten, weltgewandten, wohlerzogenen und gut gekleideten jungen Mann, der Unterhaltsames ins Gespräch einbringt, das Ehepaar hat sich in der letzten Zeit wenig zu sagen, wenn es allein ist.

      Da der Deutsche sich ihm gegenüber sehr respektvoll verhält, meint der reiche Mann, er könne den jungen Signore für einige seiner zweifelhaften Geschäfte benützen. So weit, so gut, aber der Deutsche verliebt sich unsterblich in die Hausherrin. Ist das ein Problem? Er hat sich schon häufig unsterblich verliebt, auch die Liebe genossen, um dann einfach weiterzuziehen, aber so eine Unnahbare … So einer ist er bisher nicht begegnet. In der Stadt hört er, dass sie gar nicht so unnahbar ist.

      Als der reiche Mann wieder einmal wegmuss, schickt der Deutsche eine vertrauliche Nachricht an die schöne Frau, er sei bereit, alles auf der Welt für sie zu tun, wenn sie bereit sei, seiner Liebe günstig zu sein. Mit diesen Worten beschreibt Boccaccio sein Werben. Die Frau ist nicht abgeneigt: für zweihundert Dukaten und unter der Bedingung, dass niemand es erfahren dürfe. Ich weiß nicht, was der Wert des Dukaten damals war, aber es war wohl eine hohe Summe und sie konnte es sich offensichtlich leisten, so einen Preis zu verlangen. Als der reiche Mann dem Deutschen mitteilt, er müsse sich auf eine neue längere Reise begeben, sagt dieser: ›Wohlgeborener Herr, es ergab sich für mich soeben die Aussicht auf ein sehr gutes und sicheres Geschäft, aber ich muss zweihundert Dukaten einsetzen und bin im Augenblick nicht flüssig. Könnten Sie sich vorstellen, mir freundlicherweise diese Summe zu leihen?‹

      ›Dir gerne, ich vertraue dir uneingeschränkt. Zehn Prozent Zinsen im Monat nehme ich.‹

      Kaum ist er weg, meldet sich der Deutsche bei der schönen Frau an. Er kommt, wie damals üblich, in Begleitung eines livrierten Dieners, den er allerdings bloß für diesen Anlass engagiert hat. Die Hausherrin empfängt ihn mit einer Zofe, einem jungen, aber hässlichen Mädchen, dessen Funktion es wohl ist, die ästhetischen Vorzüge der bereits alternden Dame hervorzuheben. Noch im Beisein seines Dieners überreicht er der Hausherrin den geforderten Geldbetrag mit den Worten:

      ›Madonna, ich überreiche Ihnen diese zweihundert Dukaten mit der Bitte, sie für Ihren verehrten Gatten aufzubewahren.‹

      Als sie schließlich allein sind, lobt sie seine Umsichtigkeit. Es seien genau die richtigen, vorsichtigen Worte vor den Bediensteten gewesen, sagt sie. Die zweihundert Dukaten zählt sie sorgsam und verschließt sie in einer schön gearbeiteten Holzschatulle und der vereinbarten Liebesnacht steht nichts mehr im Wege. Die verläuft so erfreulich, dass er bald jede Nacht kommen darf. Dafür fordert sie keinen zusätzlichen Lohn. Ihr könnt euch gern ausmalen, was der junge Deutsche so alles von der erfahrenen Dame lernt. Sein ganzes Leben lang wird er davon zehren. Das indische Kamasutra war im Mailand des späten Mittelalters wohl noch nicht bekannt. Oder vielleicht doch? Vielleicht hat Marco Polo das Werk mitgebracht, in Venedig ins Italienische übersetzen und auf den Markt bringen lassen und die schöne Frau hat sich ein Exemplar beschafft. Alles ist in solchen Erzählungen denkbar, wieso nicht? Vielleicht hat sie die hundert dort beschriebenen Stellungen auch einfach aus eigener Intuition entdeckt. Ihr Ehegatte wird längst zu müde für diese Art von Gymnastik gewesen sein, ein junger Liebhaber schafft das schon eher.

      Schließlich kommt der reiche Mann nach Hause. Er wurde länger als geplant in Genua aufgehalten, der Handel hat in der Stadt im Gefolge der Kreuzzüge einen großen Aufschwung erlebt, Handelsprivilegien und gute Verbindungen selbst bis ans Schwarze Meer und nach Afrika sind entstanden. Er ist mit sich und der Welt sehr zufrieden. Schon am dritten Tag nach seiner Rückkunft lädt er den Deutschen zum Mittagessen ein. Der engagiert wieder denselben Diener und sagt nach der kurzen Begrüßung: ›Von dem Geschäft, für das Sie mir die zweihundert Dukaten freundlicherweise geliehen haben, musste ich zurücktreten,


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