Corona in Buchenwald. Ivan Ivanji

Corona in Buchenwald - Ivan Ivanji


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Sascha fehlt es sehr, Gesichter zu sehen. Trägt dieser kräftige Techniker vielleicht einen gepflegten Schnurrbart, der jetzt verborgen bleibt? Einen kleinen wie Hitler, einen spitzen oder gar einen gezwirbelten?

      Später erscheint Frau Doktor Meier in Begleitung eines Pflegers reihum in allen Zimmern, misst Temperatur, Blutdruck, nimmt Virustests ab, füllt neue Formulare aus und bittet um Unterschriften.

      »So einfach ist das?«, wundert sich Noémi Barna.

      »Ist ohnehin Quatsch«, meint ihr stets skeptischer Mann.

      Michael Jung wehrt sich zuerst und will seinen Mund nicht aufmachen, gibt aber schließlich nach und lässt sich testen. Über so etwas steht nichts in der Heiligen Schrift.

      Als die Mediziner sein Zimmer wieder verlassen haben, sagt Botschafter Pharoux: »Man erlebt allerlei in diesem Leben, Dominique. Insbesondere, wenn man lange genug lebt. Das ist jetzt auch wieder eine unerwartete neue Erfahrung.«

      »Wann erhalten wir die Ergebnisse?«, fragt Sascha. Wie die Ärztin ohne Maske aussieht, weiß er glücklicherweise, sie hat ein hübsches Gesicht.

      »Kann ich leider nicht sagen«, antwortet Frau Doktor Meier ein wenig ungeduldig. »Sobald wir sie bekommen, teilen wir sie Ihnen natürlich mit.«

      »Könnten Sie bitte später einmal, wenn Sie mehr Zeit haben, noch einmal zu mir kommen?«

      »Selbstverständlich«, die Ärztin ist an der Tür stehen geblieben. »Dafür bin ich doch da, aber wenn Sie sich unwohl fühlen, sagen Sie mir bitte sofort, worum es geht.«

      »Mir geht es gut, danke. Ich wollte ein paar ziemlich allgemeine Fragen mit Ihnen besprechen, wenn Sie gestatten …«

      Sie nickt und weg ist sie.

      Kurz vor fünf klopft es wieder, es ist aber nicht die Ärztin, sondern Patrick.

      »Darf ich?«

      »Aber selbstverständlich. Nehmen Sie doch Platz. Können Sie nicht diese blöde Maske abnehmen?«

      »Tut mir leid. Darf ich eigentlich nicht …«

      Um sich per Videoschaltung gruppenweise miteinander oder alle gemeinsam unterhalten zu können, erklärt Patrick, müsse ein Moderator bestimmt werden. »Und da Sie, lieber Herr Mihályi, ja nicht nur einer der Initiatoren dieses Besuchs trotz der Absage sind, sondern auch bereits spontan begonnen haben, für die Gemeinschaft zu sprechen …«

      Das hat man davon, wenn man zu vorlaut vorprescht, denkt Sascha: »Sie können mich Sascha nennen, ich soll Sie doch auch mit dem Vornamen ansprechen.«

      »Ja, aber der Altersunterschied! Und überhaupt, Sie sind … Nun, gut, Sascha, also wir wollten Ihnen vorschlagen, dass Sie der Moderator werden.«

      »Das ist keine gute Idee, ich bin ziemlich ungeschickt mit diesem Zeug, aber mein Sohn könnte das machen, er ist es als Redakteur gewöhnt, Konferenzen zu leiten, und seine Freundin ist IT-Spezialistin, sie kann ihm bei Problemen helfen.«

      »Wunderbar. Welches Zimmer hat er?«

      »Gleich nebenan, rechts. Darf ich mitkommen?«

      »Also …« Patrick zögert. »Eigentlich gibt es diese Schaltung ja, damit sich die Herrschaften nicht im selben Raum aufhalten.«

      »Ich werde mich ohnehin nicht daran halten, wenn gerade keiner von euch Wächtern im Flur aufpasst.«

      »Ja. Verstehe. Das wird schwierig werden. Für uns alle. Ich meine das Durchhalten, die Maßnahmen durchsetzen. Ich bin doch nur der kleinste Fisch im Teich. Allerdings wussten wir das im Voraus. Dass es Schwierigkeiten geben wird, nicht wahr … Bitte, weil es Ihr Sohn ist, aber setzen Sie sich doch bitte die Maske auf.«

      Marko ist begeistert von der Idee. Als Patrick gegangen ist, holen sie sich etwas aus der Minibar. Er habe sich ihren ersten Besuch in Weimar anders vorgestellt, meint Sascha zu Mila. Da wird ihr Gespräch von einer angenehmen Frauenstimme aus der Lautsprecheranlage unterbrochen.

      »Hier spricht Ihre Rezeption. Liebe Gäste, wir wünschen Ihnen vor allem, dass Sie sich in unserem Hause wohlfühlen. Mit Ansagen wie dieser werden wir Sie so selten wie möglich belästigen, und aus diesem Grunde machen wir sie darauf aufmerksam, dass wichtige Benachrichtigungen auf Ihrem Fernseher unter der Programmnummer null erscheinen werden. Bitte, schalten Sie Ihren Fernseher ein, Sie werden eine erste Nachricht und eine Frage vorfinden …«

      Marko schaltet sofort ein. Nach einer Ansicht des Hotels vom Marktplatz aus gesehen und weiteren Willkommensgrüßen folgt die Botschaft: »Wir werden Ihnen eine Liste der eingetragenen Gäste mit der jeweiligen Zimmernummer zur Verfügung stellen, damit Sie sich auch per Haustelefon miteinander unterhalten können. Die Zimmernummern sind die Anrufnummern, die Gespräche sind selbstverständlich kostenfrei. Wenn Sie nicht wünschen, dass Ihre Zimmernummer bekannt gegeben wird, klicken Sie bitte auf Nein, wenn Sie einverstanden sind, auf Ja.«

      »Na dann gehe ich Ja sagen«, erklärt Sascha, »sonst merken sie, dass ich nicht brav in meiner Kammer stecke.«

      Tatsächlich erscheint bald auf dem Bildschirm die Liste, alle Teilnehmer haben zugestimmt, die Angereisten sind also auf einundzwanzig Zimmer verteilt, die Begleitung der meisten ist getrennt untergebracht, nur die Ehepaare sind natürlich zusammen. Der Russe ist allein gekommen. Weitere Nachrichten sind, dass man sich von der Rezeption einen Drucker ausleihen, den Bücherbestand der Hotelbibliothek einsehen und bis zu drei Bücher auf einmal ausleihen kann. Zudem wird das Abendmenü angeboten, drei warme Speisen oder eine kalte Platte, eine Speise ist koscher, eine zweite vegan – also nur eine einzige »anständige«, ärgert sich Sascha. Er weiß, dass keiner der anwesenden Juden hier religiös ist, dass man aber außerdem in einer normalen Hotelküche gar nicht richtig koscher kochen kann, dazu wären getrennte Küchen, Kühllager, Geschirr, Bestecke nötig gewesen. Deshalb bringen tiefgläubige Menschen überallhin ihre eigene Speisen und auch ihr eigenes Essbesteck mit. Das hat er bei einer Gedenkfeier in Niederorschel erlebt, einer der ehemaligen Häftlinge des dortigen Buchenwalder Außenkommandos ist chassidischer Rabbiner in Israel geworden, er hatte alles für mehrere Tage im Gepäck. Die Frau des Bürgermeisters wunderte sich, als er erschrocken zusammenzuckte und einige Schritte zurücktrat, als sie ihm die Hand reichen wollte, denn fromme Juden sollen kein weibliches Wesen berühren außer ihrer Ehefrau. Das alles müsste man dem Chefkoch mitteilen. So einer sollte zumindest theoretisch wissen, was als rein gilt, koscher bedeutet »tauglich«. Die Einhaltung der Regeln ist wahnsinnig kompliziert. Auch mit »halal« sollte er sich auskennen, in diesem Hotel könnten mitunter auch reiche Araber absteigen. Ob einer von ihnen vegan isst? Vielleicht der Deutsche, der Zeuge Jehovas. So ein Quatsch, wichtig ist, was wie schmeckt.

      Die vier kostenpflichtigen Spielfilme, die auf dem Fernsehprogramm stehen, sind ausnahmsweise auch gratis. Auf Pornografie hat Sascha keine Lust. Er bestellt die kalte Platte, Tee und eine Flasche Vodka, beschließt, später Igor anzurufen, um ihm telefonisch zuzuprosten. Der hat also in Langenstein-Zwieberge die Kaninchen gebracht, an die er sich so gut erinnern kann, das erste gebratene Fleisch nach … Die Welt scheint mitunter ziemlich klein. Der Russe ist ihm in jeder Hinsicht sympathisch.

       DIE BIBEL UND DIE PEST

      Eine neue Nachricht flimmert auf dem Bildschirm, die Videoschaltung wird morgen ab zehn Uhr in Betrieb sein, man werde sie heute noch ausprobieren, denn eventuell werde sich der Herr Ministerpräsident von Thüringen an die Gäste wenden.

      Bisher war ja allerlei los, jetzt aber beginnt für Sascha ein langweiliger Abend. Wie so oft in Belgrad. Daran hat er sich gewöhnt. Sandwiches und Schnaps und ein dummer Film. Die Hotelbibliothek braucht er nicht. Noch nicht. Nicht lange überlegend, was er mitnehmen soll, hat er sich in Belgrad einige Bücher aus dem Regal gegriffen, in dem Werke stehen, die er sich vorgenommen hat wieder zu lesen. Zufällig war darunter auch Boccaccios »Decamerone«. Gibt es Zufälle? Dieser Zufall bringt ihn auf eine Idee.

      Man muss die Zeit nützen, grübelt Sascha. Jede Zeit. Die Zeit, die uns auf Erden gegeben ist. Wenn wir jung sind,


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