Corona in Buchenwald. Ivan Ivanji

Corona in Buchenwald - Ivan Ivanji


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surrt, die Türen gehen auf und Marko und Mila steigen fröhlich, frisch, munter, bestens gelaunt aus: »Du wieder unter den Ersten, Papa? Gestern Abend haben wir keine Palatschinken, Crêpes oder wie sich hier das Zeug nennt, bekommen …«, will er erzählen, unterbricht sich aber, als er die Ärztin mit der Maske auf dem Gesicht bemerkt. »Ist etwas passiert?«

      Sascha berichtet. Marko seufzt: »Du hast gestern Abend behauptet, alles sei wie immer, Papa. Wer hat jetzt recht gehabt? Ich hoffe, wir dürfen trotzdem im Saal Anna Amalia, falls er noch so heißt, frühstücken. Womöglich für einige Zeit zum letzten Mal …«

      Patrick, der näher gekommen ist, um sich vorzustellen, hat zugehört und berichtigt:

      »Der Saal wird jetzt einfach AnnA genannt. Mit großem A am Ende. Übrigens, Patrick mein Name …«

      Aus dem Aufzug kommen nach und nach andere ältere Herren, einige mit Damen, die wohl ihre Gattinnen sind, oder mit junger Begleitung, alle mit den Kennkarten als Gäste der Gedenkstätte. Man nickt einander zu und begibt sich zum Frühstück. Platz gibt es ja mehr als genug, Abstand halten ist kein Problem. Sascha setzt sich zu seinem Sohn und dessen Freundin, bestellt sich noch einen Espresso.

      »Es ist doch alles ziemlich normal, oder?«, besteht er auf seinem Standpunkt.

      Patrick stellt sich in die Mitte des Saales, hebt ein Glas hoch, jedoch nicht um zu trinken, sondern um mit einem Kaffeelöffel darauf zu schlagen.

      »Meine Damen und Herren, ich hoffe, mich Ihnen allen schon vorgestellt zu haben. Ich sage Ihnen noch einmal im Namen der Gedenkstätte, wie herzlich Sie willkommen sind, wie sehr wir Ihren Mut bewundern, und dass wir natürlich alles für Sie tun wollen, was in unserer Macht steht. Die Landesregierung und die Stadt Weimar haben mich beauftragt, Sie auch in ihrem Namen zu begrüßen, Sie werden sicher verstehen, dass die meisten leitenden Verantwortlichen zurzeit mit der Bewältigung der Pandemie beschäftigt sind. Ich darf jetzt eine Liste mit den Namen aller Gäste und einigen Angaben zu ihnen austeilen, damit Sie schneller und leichter miteinander in Kontakt treten können, obwohl sich einige von Ihnen sicher nicht zuletzt von früheren Veranstaltungen hier kennen. Und dann möchte ich Sie herzlich bitten, noch ein wenig hier im Saal zu bleiben, alle ihre Bestellungen gehen selbstverständlich auf unsere Rechnung.«

      Mehrere der ehemaligen Häftlinge haben die Absicht gehabt, vor die Hoteltür zu schauen, ein wenig spazieren zu gehen, sie alle kennen Weimar, waren schon zu früheren Gedenkfeiern in der Stadt, auch in dem Hotel sind sie schon gewesen, aber einige der jungen Begleitpersonen noch nie, ihnen würden sie gerne das Goethe-Schiller-Denkmal zeigen, wenn das gute Wetter halten sollte, den Park an der Ilm und wenigstens aus der Ferne das Gartenhaus Goethes. Nun nehmen sie die Bitte, im Hotel zu bleiben, achselzuckend zur Kenntnis, studieren die Liste und werfen Blicke nach allen Seiten, um festzustellen, wen sie erkennen.

       Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora

      Liste der Überlebenden und ihrer Begleitpersonen, die auf eigene Verantwortung trotz entsprechender Warnungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora am 1. und 2. April 2020 angereist und im Hotel Elephant in Weimar untergebracht sind.

      Es wird das Land angeführt, aus dem die Überlebenden in ein Konzentrationslager verbracht worden sind beziehungsweise aus dem sie heute angereist sind, sowie der zuletzt ausgeübte Beruf, weil alle Pensionisten beziehungsweise Rentner sind.

       Italien/USA, Franco Miculetti, Chemielaborant, in Begleitung seiner Enkelin, Galilahi Wilson, Studentin;

       Jugoslawien/Serbien, Aleksandar Sascha Mihályi-Mihajlo vić, Schriftsteller, in Begleitung seines Sohnes, Marko Mihajlović, Journalist, sowie dessen Lebensgefährtin, Mila Klandić, IT-Technikerin;

       Griechenland, Jorgos Vargas, Sportlehrer, in Begleitung seines Enkelsohnes, Manolis Vargas, Deutschlehrer;

       Serbien/Israel/USA, Leon-Leo Gutmann, Diplomingenieur, in Begleitung seines Sohnes Amos Gutmann, Diplomingenieur;

       Frankreich, Botschafter Philippe Pharoux, Diplomat, in Begleitung seiner Gattin Dominique, Tänzerin, Choreografin;

       Ungarn, Hugo Braun-Barna, Journalist, in Begleitung seiner Gattin Noémi, Schauspielerin;

       Tschechoslowakei/Tschechien, Viktor Weisz, Professor für Slawistik, in Begleitung seines Sohnes Perun-Peter Weisz, Professor der Komparatistik;

       Deutschland, Michael Jung, Gastwirt, in Begleitung seines Enkelsohnes, David, Apotheker, und dessen Ehefrau Simonida, Blumenhändlerin;

       Spanien, Rodrigo Rosales Rosales, Schriftsteller, in Begleitung von Raphael Delacroix Diaz, Journalist;

       Niederlande, Stefan Seliger, Kaufmann, in Begleitung seiner Enkelin Anne, Diamantenschleiferin;

       Dänemark, Nils Jensen, Polizeibeamter, in Begleitung seines Enkelsohnes, Bent Jensen, Schiffskapitän;

      Sowjetunion/Russland, Oberst Igor Iwatschew, Berufsoffizier.

      Der Kaffee, den die meisten bestellt haben, ist ausgetrunken, die Gäste schweigen oder tuscheln, rätseln, wie lange sie werden warten müssen, blicken aus den Fenstern. Die Wolken haben sich zurückgezogen, Sonnenschein überzieht den Garten, um diese Jahreszeit in Weimar eine Seltenheit.

      Iwatschew wird es langweilig, ein hagerer, hochgewachsener, trotz seines hohen Alters gut aussehender Mann mit kahl geschorenem Kopf steht auf und geht zur Tür, aber ein Kellner stellt sich ihm in den Weg und bittet: »Wir warten auf eine wichtige Mitteilung, mein Herr, ich ersuche Sie höflichst …«

      »Vorbeilassen«, knurrt der ehemalige hohe Offizier und geht an dem schmächtigen, um einen Kopf kleineren Hotelbediensteten vorbei. Er kommt jedoch nicht weit, denn vor dem Saal stehen mehrere vermummte Männer in seltsamer gelber Schutzkleidung, mit weißen Masken vor Mund und Nase und bilden eine undurchlässige Barriere.

      »Was seid ihr denn?«, herrscht sie der Russe an. Er spricht ein gutes Deutsch, wenn auch mit dem unvermeidlichen slawischen Akzent. »Seid ihr eine neue SS? Seid ihr aus euren Löchern gekrochen?«

      Von der Rezeption eilt ein gut gekleideter Zivilist herbei, die Maske lose um den Hals gehängt.

      »Nein, ganz im Gegenteil, Herr Oberst«, er weiß augenscheinlich, mit wem er es zu tun hat. »In Ihrem und im Interesse Ihrer Kameraden bitte ich Sie, sich wieder auf Ihren Platz zu begeben, ich erkläre gern, worum es sich handelt.«

      »Wenn es so ist …«, murmelt der Russe und folgt der Anweisung. Der Zivilist kommt nach und stellt sich an die Wand vor dem Tischchen mit Blumensträußen, spricht laut, aber langsam, er ist ein geübter Redner:

      »Meine Damen und Herren, liebe Gäste des Landes Thüringen, der Stadt Weimar und der Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora. Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Mein Name ist Kork, ich bin von der Landesregierung beauftragt, die Maßnahmen, die leider notwendig geworden sind, zu koordinieren. Sie haben alle eine Erklärung unterzeichnet, dass Sie die Verantwortung für die Lage, die durch die weltweite Epidemie, die sich auch hierher ausgebreitet hat, soweit es Sie betrifft, übernehmen. Deshalb bestehe ich darauf, dass Sie den leider notwendigen Anweisungen, die ich Ihnen bekannt geben muss, unbedingt Folge leisten. Ich muss anfangs die bedauerliche Mitteilung machen, dass Herr Franco Miculetti, der gestern hier angekommen ist, heute Morgen in die Universitätsklinik eingeliefert werden musste. Es wurde mit einer großen Wahrscheinlichkeit festgestellt, dass er sich mit dem Virus SARS-CoV-2 angesteckt hat, jedenfalls hat er schwere Atemprobleme und wird zurzeit künstlich beatmet, eine endgültige Diagnose wird hoffentlich bis zum Abend feststehen …«

      Galilahi springt auf und ruft unbeherrscht: »Ich! … Mein Opa war kerngesund …«

      »Ich komme gern noch auf Sie zu, Miss Wilson, sobald ich alles Notwendige für alle Gäste erläutert habe. Meine Damen und Herren, Sie alle sind nun dem medizinischen Verdacht ausgesetzt, sich ebenfalls mit dem Virus angesteckt zu haben, Sie alle könnten Träger


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