Corona in Buchenwald. Ivan Ivanji

Corona in Buchenwald - Ivan Ivanji


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für ihre Zimmer im Hotel Elephant in Weimar erhalten hatten, teilte man ihnen plötzlich mit, dass wegen des Gesundheitsrisikos infolge der Ausbreitung des von der Weltgesundheitsorganisation SARS-CoV-2 genannte Virus, das zu einer Virenfamilie gehört, die die Wissenschaftler, die sie entdeckt hatten, freundlich Corona getauft haben, wie auch die Schröter hieß, die die Iphigenie der Uraufführung auf der Ettersburg auf dem Ettersberg gegeben hatte, der fünfundsiebzigste Jahrestag der Befreiung nicht mehr wie geplant stattfinden könne. Alles müsse leider abgesagt werden. Daraufhin schrieb einer der betroffenen alten Herren, er habe mit mehreren Kameraden Kontakt aufgenommen, sie würden gerne auf eigene Rechnung kommen, ob es möglich sei, die Flugtickets und Zimmerbuchungen nicht zu stornieren, die Kosten werde man gern aus eigener Tasche rückerstatten. Sie kämen aus Ländern, aus denen die Einreise nach Deutschland zumindest derzeit noch nicht verboten sei, allenfalls müssten sie an der Grenze zurückgewiesen werden. Sie wollten ihren toten Kameraden noch einmal die Ehre erweisen und ihnen Rechnung darüber ablegen, wie der Eid, den sie unmittelbar nach der Befreiung aus dem KZ Buchenwald auf dem Ettersberg geleistet hatten, befolgt worden sei. Oder eben nicht. Nicht vollständig. Sie seien alle über neunzig und sich des Risikos für sich selbst durchaus bewusst, es würde sich jedoch zu ihren Lebzeiten kaum mehr eine weitere solche Gelegenheit bieten. Gedenktage seien zwar nur Meilensteine auf einem Wege, aber man halte an ihnen an, um ein wenig über das Ziel der Reise zu reflektieren.

      Die zuständigen Herren, der Ministerpräsident, der Oberbürgermeister, der Direktor der Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora konferierten mit dem Direktor des Klinikums und weiteren Ärzten. Es gab Bedenken. Allerdings war man besorgt, die hartnäckigen alten Leute könnten eine Absage oder ein Anreiseverbot medial verwerten, als Verbot, sich vor den Toten zu verneigen deuten, ja als Leugnen der Nazigräuel. Nach einigem Zögern gaben die Veranstalter also nach. Wenn die Herrschaften schon kämen, wären sie natürlich Gäste, der Hintergedanke war wohl auch, so würde man mehr Argumente haben, sie zu kontrollieren. Die betagten Herren sollten allerdings eine eidesstattliche Erklärung abgeben, dass sie im Bewusstsein des Risikos die volle Verantwortung für sich und ihre Begleitung übernähmen.

      Es waren am Ende zwölf Überlebende, die vier Tage vor dem vorgesehenen Tag der Gedenkfeier anreisten. Der sollte ohnehin sechs Tage vor dem wirklichen Jahrestag stattfinden, am 5. April, das Lager war an einem 11. April befreit worden. So war der Kalender ohnehin schon in Unordnung geraten, denn der 11. April des Jahres 2020 fiel auf den Samstag zwischen Karfreitag und Ostersonntag, auf den Tag, als Gott tot war und seiner Auferstehung am nächsten Tag entgegensah. Wenn sich Jesus Christus mit Gott, dem Vater, und dem Heiligen Geist in heiliger Einigkeit befand, waren mit seinem Tod auch Gott der Vater und der Heilige Geist tot. Das war im frühen Christentum ein großer Disput gewesen, auch für Nietzsche … Vor solchen theologischen Überlegungen und ganz besonders vor den großen Philosophen schreckten die Veranstalter allerdings zurück und wichen diesen Fragestellungen oder gar Argumenten einfach aus. Hochbetagte Menschen schwafeln nun einmal mitunter vor sich hin.

      Zwölf Überlebende, teils von ihren Gattinnen, teils von Kindern oder Enkelkindern und deren Lebensgefährten oder von jungen Freunden begleitet, würden also im Hotel Elephant ihre schönen Zimmer beziehen. Die Hoteldirektion hatte nach der Absage der Feier und der Stornierung aller Zimmer keine neuen Reservierungen mehr angenommen, die Zimmer waren ja glücklicherweise schon bezahlt gewesen, das Personal in Urlaub geschickt. Nun musste zumindest ein Teil der Leute wieder in den Dienst zurückgerufen werden. Wunderbar. Der sterngeschmückte Chefkoch freute sich ganz besonders, dass es weniger Gäste geben würde, so konnte er seine Kunst mit besonderer Aufmerksamkeit beweisen.

      Einer nach dem anderen kommen sie an, die Trotzigen, die sich der Naturgewalt nicht haben unterwerfen wollen. Vor dem Hotel werden sie von einem Mitarbeiter der Gedenkstätte empfangen, dem der Fahrer im Voraus angekündigt hat, wer wann ankommen würde. Polizeibeamte in Zivil begrüßen sie. Weitere uniformierte Polizisten gehen schweigend vor dem Hotel auf und ab.

      Als Erster ist der Serbe Alexander Mihályi-Mihajlović, genannt Sascha, am Flughafen abgeholt worden, den sein Sohn und dessen Lebensgefährtin begleiten. Der Fahrer bittet sie, noch einige Minuten zu warten, gleich komme ein weiterer Flieger an, mit dem ein Herr aus Amerika erwartet werde – auch wenn der eigentlich Italiener sei. Als er eintrifft, machen die Herren sich bekannt, umarmen einander fast, obwohl sie sich nicht von früheren Veranstaltungen hier aneinander erinnern können, sie sehen dann aber davon ab. Das blöde Virus. Die Begleiterin des amerikanischen Italieners Franco Miculetti ist seine sehr gut aussehende, kreolisch anmutende Enkeltochter Galilahi.

      »Was für ein schöner Name! Den habe ich noch nie gehört. Hat er eine Bedeutung?«, fragt Saschas Sohn Marko, er duzt jedermann, wie das in seiner Generation üblich ist.

      Sie antwortet verschnupft: »Es ist ein indianischer Name, drei meiner Großeltern sind Navajo. Der Name bedeutet ungefähr ›Sie ist ein hübsches Mädchen‹. Man könnte ihn auch mit ›die Attraktive‹ übersetzen. Passt das zu mir? Was meinst du?«

      »Ich finde, er passt. Ich heiße übrigens Mila, das bedeutet, ich sei lieb«, mischt sich Markos Freundin ein. »Wer hat dir diesen Namen gegeben, wie konnte er wissen, wie du einmal aussehen wirst?«

      »Mein Urgroßvater mütterlicherseits. Er war ein großer Medizinmann.«

      Der Fahrer mahnt die Herrschaften höflich zur Eile und alle nehmen im Kombi Platz, Sascha und die Seinen auf der hinteren, der Italoamerikaner nebst Enkelin auf der mittleren Bank. Während der langen Fahrt spricht keiner. Am späten Nachmittag kommt die kleine Gesellschaft im Hotel Elephant an. Franco und Sascha sind schon öfter hier gewesen und wundern sich ein wenig, weil die Renovierung die Lobby stark verändert hat. Sie sollte wohl gediegen wirken, es ist jedoch reinster Kitsch geworden.

      »Entschuldigt«, sagt der Italiener mit etwas rauer Stimme. »Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Ich bin Franco Miculetti. Und wie heißt du, Kamerad? Ich kann doch Kamerad sagen und dich duzen, unter alten Buchenwaldianern? Der Fahrer hat dich als Herr Mihályi angesprochen, der Beamte hier vor der Hoteltür als Herr Michailovitsch, deine Schwiegertochter hat Sascha zu dir gesagt, wie heißt du nun wirklich?«

      Sascha und sein Sohn lachen, der Serbe erklärt: »Zugegeben, es ist kompliziert, aber gleich kommt es noch schlimmer. Es ist ein Durcheinander, fast ein wenig peinlich, aber es war lebensrettend. Also: Mein Großvater hieß Mandelbaum. Er wohnte im Banat, das gehörte damals zum ungarischen Teil von Österreich-Ungarn, und es war unter Juden Mode, ihre Nachnamen zu magyarisieren. So nahm er den Namen Mihályi an. Mein Vater und ich wurden als Mihályis geboren und ich sollte eigentlich Sándor Mihályi heißen. Aber mein Vater wollte ein guter Bürger des neuen jugoslawischen Staates sein und ließ seinen Namen amtlich auf Mihajlović ändern. Sándor ist Alexander, auf Serbisch Aleksandar, also war mein Name nun Aleksandar Mihajlović. Beschnitten nach jüdischem Ritual wurde ich nicht, meine Eltern waren Atheisten. Als Hitlers Bewegung immer mächtiger und Österreich heim ins Reich beordert wurde, ließ mein Vater mich bei einem befreundeten reformierten Pfarrer taufen. Der stellte mir einen Taufschein mit rückdatiertem Taufdatum aus, auch den Schülerausweis fälschten wir: Jetzt war ich Sándor Mihályi. So kam ich während des Krieges in den von den Ungarn besetzten Teil Jugoslawiens, in die Batschka, und konnte mich ohne Weiteres als Ungar ins Gymnasium einschreiben …«

      Galilahi muss lachen, sie begreift das alles nicht ganz, es ist wie aus einem schlechten Film. Franco stützt sich auf die Lehne eines großen Sessels, er sieht tatsächlich abgespannt aus, sie unterhalten sich stehend und er hat ja selbst den Redeschwall angezettelt, nun muss er durchhalten. Der serbische Jude mit den vielen Namen bemerkt seine Unruhe gar nicht, sondern setzt fort.

      »Aber 1944, als die Pfeilkreuzler in Ungarn an die Macht kamen …«

      »Was sind Pfeilkreuzler?«, will Galilahi wissen. Marko springt ein:

      »Bitte, darüber ein anderes Mal. Weiter, Papa, aber komm bitte zum Schluss!«

      »Gewiss doch. Also, ich flog 1944 auf und zu meinem Glück wurde ich als Jude nach Auschwitz gebracht, aber als arbeitsfähig nicht sofort vergast, sondern weiter nach Buchenwald geschickt, nicht wegen Urkundenfälschung als Kommunist angeklagt und erschossen. Und als ich zurückkam und in Titos Kommunistische Partei


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