Corona in Buchenwald. Ivan Ivanji

Corona in Buchenwald - Ivan Ivanji


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zusammenstanden. Ich rannte mit einem der Bilder in die Küche, wo meine Mutter gerade das Abendessen vorbereite, und fragte, ob das mein Urgroßvater sei. Ja, sagte sie. Warum habe man mir nie diese Fotos gezeigt, nie gesagt, dass er bei dieser Bande gewesen ist? Das sei keine Bande gewesen, belehrte mich meine Mutter streng, das seien die besten Soldaten gewesen, die das Volk und das Reich beschützten. Ich könne stolz auf meinen Urgroßvater sein. Dann stotterte sie ein wenig herum, man hätte mich nicht verwirren wollen, sie habe vorgehabt, mich nach meinem Abitur aufzuklären. Aufklären? Was für eine Wortwahl! Weiß es Papa? Selbstverständlich. Und die Brüder? Aber ja. Und ihr seid alle stolz auf ihn? Wieso nicht? Ich soll also stolz auf diesem SS-Mann sein? Freilich, wenn du ein gutes deutsches Mädel sein willst, sagte sie. Das will ich nicht, schrie ich, rannte in mein Zimmer, zerriss dort das Bild in Fetzen und warf es schließlich ins Klo. Aber ich blieb im Haus wohnen, wo sollte ich damals hin? Ich bewarb mich für das Medizinstudium in Hannover, zog hin und versuchte herauszufinden, wer mein Urgroßvater gewesen war, wo er gedient hat. Das war gar nicht so schwer, weil er ja Ritterkreuzträger war. Er ist nicht an der Front gefallen. Er war Lagerkommandant eines KZ, ist kurz nach dem Krieg zum Tode verurteilt und gehenkt worden … Mein Urgroßvater!« Sie macht eine ziemlich lange Pause, ihre Fröhlichkeit ist verschwunden. Ist es Verzweiflung, die sich auf ihrem Gesicht spiegelt? Sascha ringt nach Worten. »Können Sie das verstehen? Nein, das kann niemand verstehen, aber deshalb wollte ich für Sie arbeiten hier, deshalb!« Sie weint.

      »Ich glaube, ich kann Sie verstehen, Gerda«, Sascha versucht, ganz ruhig zu bleiben. »Es ist sicher viel schwerer, einen Ahnen zu haben, der ein Verbrecher war, als Nachfahre eines Opfers zu sein.« Er steht auf und fährt Gerda über den Kopf, wie einst seiner Enkelin, als sie wegen ihres ersten Liebeskummers weinte. Nach einigem Zögern fügt er hinzu: »Nicht weinen, Gerda. Ego te absolvo. Du könntest ja meine Enkelin sein.«

      Unwillkürlich hat er sie geduzt.

      Am zweiten Tag, seit elf ehemalige Häftlinge, die sich, wie es Jorge Semprún einmal vorgeschlagen hat, Buchenwaldianer nennen, im Hotel Elephant in Quarantäne festsitzen, schalten sich tatsächlich alle, die elf und ihre Begleiter, insgesamt vierundzwanzig Personen, in die Videokonferenz zu. Marko begrüßt sie.

      »Alle sind dabei. Selbst Igor gibt uns die Ehre.«

      »Es gibt ja nichts Gescheiteres zu tun …«

      »Als Erstes müssen wir einen wählen, der unsere Erzählabende leitet, unser Decamerone.«

      »Sascha selbstverständlich«, sagt Professor Weisz aus Tschechien. »Es war ja seine Idee, dass wir uns auf diese Art und Weise Geschichten erzählen. Sicher sind alle damit einverstanden.«

      »Ich bin nicht einverstanden, lieber Kamerad«, der ehemalige Botschafter Philippe Pharoux schaltet sich ein. »Ich glaube, das sollte keiner von uns machen. Wir werden ja reihum vorzutragen haben. Ich meinerseits schlage unseren jungen Marko vor. Er hat gezeigt, dass er solche Gespräche geschickt leiten kann und er ist unseren Geschichten gegenüber neutral, wenn es notwendig sein sollte, kann er eingreifen, er ist mit dem Programm vertraut.« Es entsteht eine Pause, sodass Pharoux fortsetzen muss. »Wer einverstanden ist, möge, bitte, die entsprechende Taste anklicken.« Das tun alle, manches hat sich als selbstverständlich eingespielt. Und da niemand das Wort ergreift, setzt der erfahrene Diplomat fort. »Marko, nimmst du die Wahl an?«

      Marko bemüht sich, nicht zu zeigen, wie geschmeichelt er sich fühlt. »Ich nehme die Wahl an, Herr Botschafter.«

      »Rede mich hier nie mehr mit Herr an, und schon gar nicht mit Herr Botschafter. Ich bin Philippe. Wir sitzen alle im gleichen Boot. Also leg los. Ich bin schon richtig neugierig.«

      Allgemeine Zustimmung, der entsprechende Button leuchtet auf. Marko räuspert sich.

      »Ich will es versuchen. Falls ich Mist baue, können Sie mich ja wieder abwählen … Pardon, ich sollte Sie ja alle duzen. Wird mir nicht leichtfallen. Ich habe zu viel Respekt vor euch. Aber ich werde mir vorstellen, Sie seien … nein, ihr seid wie mein Papa. Fein. Nun müssen wir uns allerdings auch darüber verständigen, wer beginnt. Der Erste wird es am schwersten haben, das Eis zu brechen.«

      Keiner meldet sich.

      »Keine Freiwilligen? Dann spiele ich den Ball weiter, das soll der Herr Botschafter, nein, das soll Philippe machen, als ehemaliger Botschafter hat er ja vermutlich entsprechende Erfahrung. Wenn ich nicht irre, war er in der Delegation bei der Gründungskonferenz der UNO dabei.«

      »Das war zwar nicht ich, sondern mein verstorbener Freund Stéphane Hessel, aber ich bin einverstanden zu versuchen, euch am ersten Abend ein wenig zu unterhalten.«

      »Dann nichts wie los!«, ruft der russische Oberst. »Los! Los! Das Wörtchen kennt ihr Alten doch ganz gut!«

      »Also bitte …« Marko schluckt. »Bitte, Philippe!«

       DER ERSTE ABEND – EINE SCHÖNE FRAU

      Philippe Pharoux spricht. Man sieht ihm, wenn nicht den ehemaligen Spitzendiplomaten, so doch jedenfalls den französischen Großbürger an, das ist schon bei der ersten Begrüßung in der Lobby nicht zu übersehen gewesen. Er war den Deutschen als Kommunist und Mitglied der Résistance in die Falle gegangen. Ist das ein Widerspruch, weil er kein Arbeiterkind ist, sondern aus einer wohlhabenden Bankiersfamilie stammt? Hager, glatt rasiert, auch jetzt in seinem Zimmer im maßgeschneiderten Anzug mit Weste und Seidenschlips, wirkt er keineswegs overdressed, sondern als wäre ihm so ein Aufzug einzig angemessen. Er benützt einen Gehstock aus schwarzem Holz mit Silberknauf, auf den er sich so elegant stützt, als brauchte er ihn nicht als Gehhilfe, sondern als Accessoire seiner Garderobe. Selbstbewusst ist er zweifellos, doch seine ungekünstelte Höflichkeit, die wie aufrichtige Freundlichkeit wirkt, lässt ihn keineswegs überheblich scheinen. Sein Deutsch ist perfekt.

      »Ich werde es mir so einfach wie möglich machen. Ich werde eine Geschichte aus Boccaccios ›Decamerone‹ nacherzählen, so gut ich mich erinnere, in der Hoffnung, dass wenige von euch sie kennen. Ich wähle eine, die ein wenig schlüpfrig ist, ich wollte, ich könnte sie als Film vorführen, als Pornofilm, dann müsste keiner später auf das vermutlich öde Angebot des Pay-TV zurückgreifen. Tja, schlüpfrig für die damalige Zeit. Eure Fantasie ist gefordert.

      Es handelt sich um den achten Tag und die Königin, also die Person, die sowohl Markos als auch meine Rolle hat, ist Laurette. Ich stelle sie mir ungefähr zwanzigjährig vor, ziemlich frech und nachlässig gekleidet, ihre Bluse zeigt viel von ihren jungen, prallen Brüsten. Strengt eure Fantasie an, stellt euch vor, wie die Kamera das von oben zeigt. Schwarze Locken, Stupsnase, voller Mund. Beschrieben wird anfangs das aufgehende Tageslicht Italiens. Es ist nicht so düster wie Anfang April hier in Weimar, aber was kümmert uns Weimar, der Schauplatz unserer Geschichte ist Mailand. Nein, nicht Florenz, zwar befindet sich dort die Gesellschaft der jungen Leute, die sich vor der Pest gerettet haben, aber die Geschichte, die in der hübschen Villa vorgetragen wird, spielt in Mailand, das wird ausdrücklich betont, ich habe das nicht erfunden, weil es unserer Tage in dieser Stadt, was Corona betrifft, so schrecklich zugeht. Aber es passt. Zufällig passt es, dass wir uns nach Mailand vor fast sieben Jahrhunderten begeben.

      Ich will nicht zu viel Geschichte treiben, auch habe ich nicht alle Daten im Kopf. Wesentlich ist, Florenz war die wichtigste Handelsstadt jener Zeit, das muss man für unsere Erzählung berücksichtigen, sie war eine Art Republik und wurde vom Consiglio del popolo regiert. Mailand dagegen war ein Herzogtum. Die jungen Florentiner des ›Decamerone‹ hegten deshalb eine gewisse Verachtung für die Mailänder Geschäftsleute.

      Mailands Wappentier war übrigens ein ziemlich magerer schwarzer Adler, der mich ein wenig an den Adler erinnert, der hier der Bundesrepublik in derselben Rolle dient. Ob das ein Zufall ist? Ich bin kein Heraldiker, Adler kommen auf vielen Wappen vor, aber diese Ähnlichkeit finde ich doch bemerkenswert. Ist ja egal und tut nichts zur Sache, der Held meiner Geschichte ist jedenfalls ein Deutscher im Italien des 14. Jahrhunderts. Wieso? Das müsste man Boccaccio fragen.

      In Mailand lebt ein reicher Händler, heute würde man sagen ein Tycoon, namens Guasparruolo Cagastraccio. Wahrscheinlich


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