Willem Adolf Visser 't Hooft. Jurjen Albert Zeilstra

Willem Adolf Visser 't Hooft - Jurjen Albert Zeilstra


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Factor jeweils am 1. Januar jedes Jahres einen langen selbstgemachten Vers rezitierte, das sogenannte Jahreslied, ein Rückblick auf verschiedene aktuelle Ereignisse des Jahres.12 Im ersten Burenkrieg von 1880–1881 schrieb Vater ’t Hooft unter dem Pseudonym Antibull ein Spottgedicht über die Engländer mit dem Titel Der Überfall auf Transvaal oder Die wahren Beschwerden der Ausländer: eine wahre Geschichte.13 Mit einer Studie über das Rechthuis in Haarlem trug er zur lokalen Geschichtsschreibung bei. Zudem war er ein Liebhaber der Literatur des 19. Jahrhunderts und veröffentlichte eine Broschüre über Jan van Walré, einen in Haarlem berühmten Dichter, der um 1800 lebte.14 Auch war er ein Bewunderer von Hildebrand – das war das Pseudonym des bekannten Haarlemer Dichters und Theologen Nicolaas Beets (1814–1903). Über ihn verfasste er ein Buch und setzte sich für ein Beets-Denkmal ein.15 Bei den Kommunalwahlen von 1919 stand Vater ’t Hooft auf der Liste der Vrij-Liberale Partij, die für die Begrenzung staatlicher Einmischung eintrat und Bürokratismus verabscheute. Die Partei versprach auch nachdrücklich, private Initiativen zu fördern. Er wurde jedoch nicht gewählt.

      Mutter Jacoba Clasina Lieftinck (1874–1928) spielte eine wichtige Rolle in der Familie. Sie hatte keine leichte Kindheit. Ihr Vater war als Parlamentsmitglied fast immer in Den Haag. 1883 zog die Familie nach Haarlem, doch im selben Jahr starb ihre Mutter. Lieftinck heiratete 1886 Hermine Marie Elisabeth Holtzman, die Tochter des liberalen Abgeordneten Petrus Hendrik Holtzman. Die dritte Frau von Franciscus Lieftinck mochte Jacobas Bruder Jan Lieftinck nicht und so wurde er außer Haus gebracht. 1888 wurde ihre Stiefschwester Francisca Hermine geboren. Jacoba wurde 1891 in ein Aachener Internat geschickt. Sie war 21 Jahre alt, als sie 1895 Hendrik Philip ’t Hooft heiratete. 1897 wurde ihr erster Sohn Franciscus (Frans) geboren, 1900 als zweiter Willem Adolph (Wim) und 1905 Hendrik Philip (Hans). Wim sah seine Mutter als Dreh- und Angelpunkt der Familie, eine energiegeladene Frau, die das Heft in der Hand hatte. Er charakterisierte die Atmosphäre als eine besondere Kombination aus Disziplin und Freiheit, wobei es dazugehörte, sich gegenseitig zu necken.16 Die vielen Kontakte führten dazu, dass zur Teezeit im Haus Zonnebloem regelmäßig Besucher anwesend waren und Mutter Jacoba erfüllte die Rolle als Gastgeberin mit Elan.

      Wim Visser ’t Hooft war ein halber Zwilling. Sein Bruder starb bei der Geburt am 20. September 1900 in Haarlem. In der Familie wurde Wim das »Sandwichkind« zwischen dem älteren Frans, geboren 1897, und dem jüngeren Hans, der am 20. September 1905 geboren wurde. Letzteres war ein großer Trost für die Eltern, denn dieser Tag war nicht nur Wims Geburtstag, sondern auch der Todestag seines Zwillingsbruders. Später projizierte er viele Aspekte der familiären Verbindungen, die er in seiner Kindheit und Jugend erfahren hatte, auf die internationale ökumenische Bewegung, die er wörtlich oft als »Familie« bezeichnete. Gegenüber jüngeren Menschen stellte er sich väterlich auf. Er schrieb Limericks und andere Gedichte über Ereignisse, die er am Ende des Jahres seinen Mitarbeitern vortrug; ganz so, wie es sein Vater im »Trou must Blijcken« in Haarlem getan hatte. In seinen eigenen Augen erlebte er das Glück, im Zentrum einer Bewegung zu stehen, die gerade dann Wind in ihren Segeln hatte, wenn die Krise am schlimmsten war. Visser ’t Hooft hatte die Fähigkeit aufzublühen, wenn aufregende Dinge passierten.17 In seinem Tennisclub Tidas in Haarlem stand er oft an der Spitze. Als der Flugzeughersteller Anton Fokker am 31. August 1911 in seiner Heimatstadt Haarlem sein Flugzeug »de Spin« vorführte, war Wim ’t Hooft dort zusammen mit seinem Freund, dem Nachbarsjungen von Fokker. Gemeinsam halfen die Jungen, die Reifen des Flugzeugs aufzupumpen. Erlebnisse wie diese sind typisch für seinen anpackenden Wesenszug.

       1.3 Gymnasium: ein kleiner Philosoph

      Die Sommerferien verbrachte Visser ’t Hooft in seiner Kindheit hauptsächlich in Dordrecht, aber in den Jahren vor dem Krieg unternahm die Familie auch Auslandsreisen. Im Sommer 1912 unternahm Wim seine erste Auslandsreise entlang des Rheins ins Siebengebirge. Die Sommerferien von 1913 verbrachte er in Seeheim-Jugenheim an der Bergstraße in der Nähe von Frankfurt. 1914 machte er erstmals mit seinem Vater eine Wanderung mit dem Niederländischen Touristenverband ANWB in den Niederlanden, doch die Familien-Sommerferien im Sauerland mussten wegen des Kriegsausbruchs am 1. August vorzeitig beendet werden. In Düsseldorf sahen Wim und seine Brüder, wie die deutsche Armee mobilisiert wurde. Es gab keine Züge mehr von Deutschland in die Niederlande. Die Brüder und ihre Eltern mussten die niederländische Grenze zu Fuß überqueren.18

      In dieser Zeit nahm Wim begeistert an den Sommerlagern des Niederländischen Christlichen Studentenverbandes (NCSV) teil, der nationalen Unterorganisation des Christlichen Studentenweltbundes (WSCF). Möglicherweise hatten ihn seine Eltern dazu angeregt, nachdem Königin Wilhelmina und Prinz Hendrik 1913 ein NCSV-Sommerlager besucht und diesem dadurch zu größerer Bekanntheit in der Öffentlichkeit verholfen hatten.

      In diesen Sommerlagern arbeiteten Studenten als Teamleiter, und zwar nicht nur, um den teilnehmenden Jugendlichen Gemeinschaft, Sport und Spiel in der Natur zu ermöglichen, sondern auch, um ihren eigenen Glauben mit den Jugendlichen zu teilen. Die Stimmung in den Sommerlagern war sozial motiviert, sportlich und es wurde viel Wert auf die persönliche Entwicklung gelegt. Weil nun durch den Krieg Auslandsreisen unmöglich geworden waren, ging Wim fortan einmal im Jahr mit dem NCSV irgendwo in den Niederlanden in ein Sommerlager, meistens auf dem Waskolk-Gelände in der Nähe von Nunspeet. In den Sommerlagern des NCSV erlebte Wim Visser ’t Hooft ganz andere Dinge als er von zu Hause gewöhnt war. Die Studenten, die Teamleiter waren, waren oft pietistisch geprägt und ermutigten die Jungen, selber in der Bibel zu lesen, ganz so, als ob sie genau für sie persönlich geschrieben sei. Die Bibel galt also bei den Sommerlagern nicht als ein Buch mit kulturgeschichtlich interessanten, aber kontextuell und historisch zu interpretierenden Texten, sondern als das Wort Gottes mit einer aktuellen Botschaft für junge Menschen, direkt und modern. Im Zentrum stand dabei der Glaube an Jesus Christus. Es wurde viel Mühe darauf verwendet, die Jugendlichen zu einem persönlichen Glaubensengagement zu bewegen. Persönliches und kollektives Beten, das sich auf konkrete Fragen des Lebens richtete, wurde gefördert. In dieser Atmosphäre erlebte Wim Visser ’t Hooft den Glauben als eine gemeinschaftsstiftende Kraft; und diese Erfahrung ließ ihn nicht los.

      »Der NCSV hat mich zum Glauben an Jesus gebracht. Seine Botschaft wurde nicht durch feierliche Prediger vermittelt, sondern durch Studenten, die einige Jahre älter waren als wir. Sie verwendeten einfache Sprache und hatten oft einen sehr ursprünglichen Glauben. Als es am Ende eines lauten Essens im großen Zelt des Lagers in Waskolkkamps plötzlich sehr still wurde und ein Student, den wir als Sportler oder als Witzeerzähler kannten, versuchte, im Licht einer Petroleumlampe zu erklären, was das Gebet eigentlich bedeutete oder warum du mit der Bibel leben solltest, dann hörten wir zu, wie wir noch nie zugehört hatten.«19

      1912 wurde Wim ’t Hooft in das Städtische Gymnasium in Haarlem aufgenommen. Er hielt sich selber nicht für einen brillanten Schüler.20 Aber schon in jungen Jahren hatte er alles gelesen, was er zu lesen bekam, hauptsächlich aus der großen Bibliothek seines Vaters. Im Vergleich zu den meisten Kindern war er sehr belesen in die Schule gekommen. In seinen Erinnerungen beschreibt er sich als einen altklugen Jungen, der gerne von seinen Freundinnen wegen seiner philosophischen Beiträge geneckt wurde. Auch seine Familie sah zu dieser Zeit einen kleinen Philosophen in ihm. Was Wim nicht in den Büchern seines Vaters fand, versuchte er aus zweiter Hand zu bekommen. In seinen Memoiren stellte er selbst fest, dass sein Lesefutter keinem festen Muster folgte. Er las Autoren wie Heinrich Heine, Oscar Wilde, Romain Rolland, Leo Tolstoi und vor allem Fjodor Dostojewski. Er versuchte auch, Philosophen wie Spinoza, Schopenhauer und Schleiermacher zu lesen, aber sie waren eine Nummer zu groß für ihn. Als Wim einmal mit seinem Großvater Lieftinck über Schleiermacher sprechen wollte, antwortete dieser leicht herablassend: »Früh reifen, früh faulen.« Wim machte das wenig aus. In der Lyrik interessierte er sich vor allem für die 1880er Jahre. Er begann auch selbst, Gedichte zu schreiben und zusammen mit einem Freund schrieb er ein komisches Musical mit dem Titel »Andromeda«. Das wurde während eines Festes in Leeuwarden aufgeführt. 1917 schickte er einige seiner Gedichte an den bekannten Dichter Willem Kloos, aber das war eine Enttäuschung: Dieser antwortete mit einer Standardabweisung. Mehr Erfolg hatte er


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