Willem Adolf Visser 't Hooft. Jurjen Albert Zeilstra

Willem Adolf Visser 't Hooft - Jurjen Albert Zeilstra


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durchfuhren sie Gebiete, aus denen sich die deutsche Armee gerade zurückgezogen hatte. Die belgischen Truppen waren noch nicht eingetroffen. Am 25. November wurde der erste Bericht von Visser ’t Hooft über die Ankunft des belgischen Königspaares in Brüssel in der Rubrik »Ausland« in der städtischen Ausgabe von »Haarlem’s Dagblad« veröffentlicht.

      »Unter unbeschreiblichem Jubel der Brüsseler Bevölkerung betrat am Freitag König Albert, der geliebte Prinz der Belgier, die belgische Hauptstadt. Es war prächtiges Wetter. In der Nähe des Parlaments hatten sich viele Menschen versammelt. Zahlreiche belgische und alliierte Truppen machten sich für eine Parade bereit. Viele Vereinigungen hielten vor dem Parlament Transparente in die Höhe. Aus den Fenstern und von den Balkonen verfolgten viele Menschen das Schauspiel und die militärischen Aktivitäten. Viele fremde Soldaten und Rote-Kreuz-Schwestern waren zu sehen. In der Zwischenzeit rollen die Autos der Minister, anderer Würdenträger und des diplomatischen Korps an. Eine Staffel belgischer Flugzeuge trifft in V-Formation ein und umkreist den Park, das Parlament und den Palast. Das Publikum ist begeistert. Die Menschen fühlen sich wieder frei, befreit von den niederdrückenden Tagen der fremden Herrschaft und der fremden Gewalt. Das Volk genießt die Freiheit.«34

      Wim begann, an der Reiseberichterstattung Gefallen zu finden. 1919 unternahm er eine Reise nach Nordfrankreich und Paris. Er war tief beeindruckt von den Gräben in der Nähe von Reims, die aussahen, als hätten sie die Soldaten gerade am Vortag verlassen. Die stark beschädigte Kathedrale von Reims bildete den Hintergrund für eine Landschaft voller Zerstörung. Er schrieb:

      »Falls Du Dir immer noch einen Rest von Militarismus bewahrt hattest, so wird er Dir hier an dieser Stelle endgültig vergehen.«35

      Unabhängig von all diesen Ablenkungen machte Wim 1919 seine Zwischenprüfung in Theologie. Dafür schrieb er eine Hausarbeit über Satan, bei A. J. Wensinck, Professor für semitische Sprachen. 1920 legte er die juristische Prüfung ab, doch das war das Ende seines Jurastudiums. Er hatte bewiesen, dass er es konnte, aber dieses Studium interessierte ihn nicht.36

      Der Student, der er nun war, blieb fasziniert von den NCSV-Sommerlagern, die er seit 1915 besuchte. Bis 1924 war Wim jeden Sommer in einem Lager irgendwo in den Niederlanden. Er war jetzt Adjutant, dann Zeltoffizier und schließlich einer der jüngsten »Sommerlagerkommandanten«, der ein Lager mit hundert Schülern leitete. Es waren auch einfache Jungen aus dem Volk, die an den Lagern teilnahmen, so dass hier etwas von der elitären und individuellen Entwicklungsatmosphäre, in der er aufgewachsen war, aufgebrochen wurde. Man musste miteinander kooperieren und gemeinsam Abenteuer in der Natur bestehen. In den Sommerlagern herrschte eine ganz andere Atmosphäre als in Leiden während der Vorlesungen, in der Leidener Studentenverbindung oder zu Hause in Haarlem.

      Später blickte Visser ’t Hooft auf seine ersten zwei Studienjahre in Leiden als eine Zeit des oberflächlichen Studentenlebens zurück. Einen großen Teil der Nächte verbrachte er in der Minerva Society. Das war gesellig, aber er sehnte sich nach etwas anderem. Die große Veränderung kam 1920, als er und sein Freund Herman Hoogendijk beschlossen, drei Monate im Woodbrooke Quaker Study Center in Selly Oak bei Birmingham zu verbringen. Die Universität Leiden hatte zu dieser Institution seit 1903 Kontakt, also seit der Zeit, als der Neutestamentler J. R. Harris einen Lehrstuhl in Leiden abgelehnt hatte, zugleich aber zu verstehen gegeben hatte, dass Leidener Theologiestudenten in Woodbrooke willkommen seien.37 Für Wim Visser ’t Hooft wurden diese Monate geistlich sehr bereichernd. In Woodbrooke herrschte ein ökumenischer Geist, der die offene Diskussion über den Glauben förderte.

      Unter den Quäkern gab es zahlreiche Anhänger der Social Gospel-Bewegung, die großen Wert darauf legten, um den Glauben im Alltag praktisch erfahrbar zu machen. In Birmingham hörte Visser ’t Hooft berühmte Redner wie den einflussreichen Neutestamentler H. G. Wood. Später bezeichnete er die Zeit in Woodbrooke als eine wichtige Zeit von Vertiefung, mit der sein Leben eine Richtung erhielt.38

      Visser ’t Hooft und Hoogendijk besuchten auch andere britische Städte. In Cambridge hörten sie den Schriftsteller George Bernard Shaw und den Ökonomen John Maynard Keynes. Shaw war eine Sensation. In einem Artikel der Zeitschrift der Leidener Studentenverbindung drückte Visser ’t Hooft seine Bewunderung für den berühmten Schriftsteller aus, der als Redner scheinbar mühelos alle faszinierte, ob sie nun Kapitalisten oder Sozialisten waren.

      »Der graue Lehrmeister der sauberen Vernunft an der Leidsche Hoogeschool würde ernsthaft seinen nachdenklichen Kopf schütteln. Was passiert mit der Polarisierung der Realität, wenn jemand auf der Welt Recht hat? Und doch: Vielleicht hat er noch nie einen so verwandten Geist entdeckt wie Shaw. Allerdings macht es Shaw psychologischer. Wie? Das ist das unlösbare Geheimnis des Volksredners, das wir mit dem schönen Namen der Massenpsychologie bezeichnen, aber nicht erklären können.«39

      Dies war das Engagement, das er in Leiden vermisste.

      Im Januar 1921 nahm er mit der NCSV-Delegation an einer Konferenz der Student Christian Movement (SCM), des britisch-irischen Zweigs des World Student Christian Federation (WSCF) und somit einer Schwestervereinigung der NCSV in Glasgow teil. Es war sein erstes großes internationales Treffen und beeindruckte ihn sehr. Rund 2.000 Studenten aus 38 Ländern nahmen teil und wurden von Prominenten wie Edward Grey, dem britischen Außenminister bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, angesprochen. Grey betonte vor den jungen Menschen, dass der Untergang der Zivilisation nur durch die Wiederherstellung der geistigen Werte des Christentums verhindert werden könne. Glasgow öffnete Wim Visser ’t Hooft die Augen dafür, welche Möglichkeiten internationale Begegnungen boten, um die Not der Welt zu lindern. Hier wurde der Beziehungscharakter der Glaubenssprache für Visser ’t Hooft konkret. Er hörte Redner wie William Temple (1881–1944), den damaligen anglikanischen Bischof von Manchester, und den Schotten Joseph H. Oldham (1874–1969), Missionar in Indien und Mitglied der United Free Church, die Gott als höchste Realität hervorhoben. Es beschäftigte ihn, dass diese nicht über Gott als Idee oder unpersönliche Kraft sprachen, sondern über den lebendigen Gott, der Initiative ergriff und persönlich mit den Menschen sprach. Später sollte er noch viel mit Temple und Oldham zu tun haben. 1938 waren es gerade diese beiden, die ihn als Generalsekretär des entstehenden Ökumenischen Rates der Kirchen vorschlugen.

      Kurz darauf machte ihn die Stimme des calvinistischen Schweizer Theologen Karl Barth (1886–1968) nachdenklich. Sein Freund Nico Stufkens (1892–1964), Studiensekretär des NCSV, machte ihn auf Barths Werk aufmerksam, insbesondere auf die zweite Auflage seines Römerbriefes von 1922.40 Visser ’t Hooft war nicht sofort überzeugt. Er fand das Buch schwer zugänglich. Was ihn jedoch ansprach, war, dass Barth das Ringen mit der historisch-kritischen Methode und den Fragen der modernen Philosophie ernst nahm. Barth kannte Nietzsche und Dostojewski und ließ die existentiellen Fragen, die sie stellten, zu. Gleichzeitig respektierte Barth die Bibel weiterhin als das Wort Gottes, womit er Visser ’t Hooft Respekt abnötigte. Nach Barth war die Stimme Gottes sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene zu hören, eine Heilserklärung war möglich. In Barths Herangehensweise vermutete Visser ’t Hooft die Antwort, die er suchte; ein angemessenes Gegengewicht zur Skepsis seines Großvaters Lieftinck. Es dauerte jedoch noch einige Jahre, bis er das Gefühl hatte, Barth wirklich verstanden zu haben.41

      1921 wurde Wim Visser ’t Hooft Vorsitzender des NCSV-Studentenhilfskomitees, das in den vom Ersten Weltkrieg und der Spanischen Grippe betroffenen Ländern Gelder für die Unterstützung von Studenten sammelte, insbesondere für Lebensmittel und Kleidung. Kurz darauf wurde er auch gebeten, den Vorsitz im Hilfskomitee der Nationale Studenten Organisatie (NSO) zu übernehmen, dem nicht nur protestantische Christen, sondern alle niederländischen Studentenorganisationen angeschlossen waren. Visser ’t Hooft sah seine Chancen und sagte ja. Doch merkte er bald, dass er eine komplexe Kombination von Funktionen erhalten hatte. Die NCSV-Arbeit gehörte zum European Student Relief, dem größten Projekt des WSCF. Sie stand unter amerikanischer Leitung und wurde von dem Multimillionär John D. Rockefeller unterstützt. Visser ’t Hooft tanzte also sozusagen auf zwei Hochzeiten und verbrachte zusätzlich zu seinem Studium viel Zeit damit, Geld zu sammeln, Dinge zu regeln und zu koordinieren.

      Eine internationale


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