Willem Adolf Visser 't Hooft. Jurjen Albert Zeilstra

Willem Adolf Visser 't Hooft - Jurjen Albert Zeilstra


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      Wim als Schüler

       1.4 Studentenzeit in Leiden: Fragen und Antworten

      Ohne dass er selbst es wohl ahnte, spielte Großvater Lieftinck in seiner letzten Lebensphase noch eine wichtige Rolle für Visser ’t Hooft. Wim hatte großen Respekt vor ihm, aber selten die Gelegenheit, alleine, unter vier Augen, mit ihm zu sprechen. Lieftinck verteidigte begeistert die Freimaurerei, die er als eine großzügige, undogmatische Form von Religion interpretierte. Doch als Visser ’t Hooft feststellte, dass sein Großvater jede Möglichkeit einer persönlichen Begegnung mit Gott ablehnte, war er schockiert. Die Tatsache, dass Lieftinck, der einst selber Pastor gewesen war, Amt und Kirche bewusst hinter sich gelassen hatte, gab Wim viel zu denken.

      »Nicht, dass er jeglichen Glauben an Gott verloren hätte. Aber er war zu dem Schluss gekommen, dass Gott so großartig und verborgen war, dass der bescheidene Mensch kein Recht habe, über ihn zu sprechen. Fürbitten, in denen Gott gebeten werde, in menschliche Angelegenheiten einzugreifen, seien falsch. Uns blieb nur übrig, auf die Stimme unseres Gewissens zu hören.«22

      Lieftinck starb 1917 in Haarlem. Mit seiner Lebenseinstellung hinterließ er seinem Enkel Wim ein geistliches Erbe, das dieser als Herausforderung und Auftrag zugleich betrachtete. In dieser Phase paarte sich bei Wim Neugierde mit dem Auftauchen verschiedener persönlicher Lebensfragen. In dem Schuljahr 1917/18 erhielt er Hebräischunterricht bei dem Rabbiner von Haarlem und Katechese bei Pfarrer Dr. A. H. Haentjens (1876–1968). Echte Antworten konnte ihm der Pfarrer nicht geben, aber das hinderte Wim nicht daran, am Unterricht teilzunehmen. Haentjens vertrat einen an Hegel orientierten Kirchen- und Lebensbegriff und war ein origineller Denker. Vater Visser ’t Hooft mochte ihn und widmete ihm ein langes Gedicht.23 Aber der Pfarrer, der für einige schwer einzuschätzen war, wurde beschuldigt, insgeheim orthodox zu sein. Am Ostermorgen 1905 fasste er die Osterbotschaft mit den Worten »Der Herr ist wahrhaftig auferstanden!«24 zusammen. Das brachte ihn in Konflikt mit der Kirchenleitung, die ihn beschuldigte, die modernistische Position der Remonstranten aufgegeben zu haben und nicht freisinnig, sondern insgeheim orthodox zu sein. Haentjens trat zurück, wurde jedoch von der Gemeinde erneut angerufen und blieb bis zu seiner Pensionierung 1939 in Haarlem. Er legte großen Wert auf die Taufe als einen Moment der Heiligung durch Gott und darauf, dass das Königreich Gottes auch in der Kirche Gestalt annahm. Allerdings war nicht jeder in seiner Gemeinde dieser Meinung. Gleichwohl war er ein faszinierender Mann mit einem eigenen Urteil. Und er beeinflusste die Entwicklung von Visser ’t Hooft in einem entscheidenden Moment, denn dieser fühlte sich tatsächlich auf intellektueller Ebene von Haentjens herausgefordert. Aber er redete ihm nicht nach dem Mund.25

      Sehr viel später, als er als alter Mann 1980 auf diese Zeit zurückblickte, fand er, dass er damals auf dem Weg gewesen war, ein »Synkretist« zu werden. Das war für ihn ein negativer Begriff: Jemand, der alle möglichen Einsichten aus verschiedenen philosophischen und religiösen Traditionen zusammenfügte, ohne Widersprüche in Frage zu stellen, und der nicht mehr in der Lage war, den unterschiedlichen Wahrheitsgehalt der verschiedenen Religionen und Konfessionen wahrzunehmen:

      »der gefährlichste Aspekt […] war, dass dies leicht zu abstrakten Überlegungen über Religion im Allgemeinen führen konnte, anstatt mich dichter an den Jesus des Neuen Testaments zu binden. Ich las alles Mögliche an religiöser Literatur, auch Bücher von Pantheisten, Mystikern und Agnostikern. Durch sie war ich auf dem Weg, ein Synkretist zu werden, der alle Arten religiöser Erfahrungen als gleichermaßen wahr und unwahr ansah.«26

      In dem Tagebuch, das Visser ’t Hooft 1917 führte, beschrieb er seine innere Unruhe.27 Bei den Remonstranten war es üblich, dass die Katecheten ihren Glauben in ihren eigenen Worten bezeugten. Leider ist dieser Text von Visser ’t Hooft verloren. Wir wissen nur, dass er mit diesem Text später überhaupt nicht zufrieden war. Seinem späteren Gefühl nach hatte er sich allzu sehr bemüht, sämtliche Ideen über Gott und die Menschen zusammenzubringen. Er versuchte, wie er sich später erinnerte, sowohl den Gott der Philosophen als auch den Gott Abrahams zu retten, wie auch den Philosophen Pascal. Auf diese Weise, so meinte er später, hatte er Christus auf eine Idee reduziert und leugnete damit die Ehre, die ihm in der konkreten Fleischwerdung als Sohn Gottes zukam; nämlich »als Gott, der in die Menschengeschichte hinein kommt.«28 Obwohl er während seiner Studienzeit anders darüber zu denken begann und schließlich 1923 in die Nederlands Hervormde Kerk wechselte, dachte er auch nach vielen Jahren noch dankbar an den Kontakt mit dem Remonstranten Haentjens. Er schätzte besonders, dass dieser ihn zum Nachdenken gebracht hatte.29 Vielleicht hätten Visser ’t Hoofts Tagebuch oder sein Bekenntnis seine religiöse und intellektuelle Entwicklung dieser Zeit erhellen können; sie sind aber, wie bereits erwähnt, leider verschollen.

      Als es 1918 um Wims Studienwahl ging, schien ihm Theologie eine attraktive Gelegenheit zu sein, seine persönliche Suche zu vertiefen. Mit der Kirche als solcher hatte er zu dieser Zeit nicht viel zu tun. Er hatte nicht die Absicht, Pfarrer zu werden, sondern suchte Antworten auf seine eigenen Fragen. Er erlebte Theologie in erster Linie als ein »wunderbares Studienobjekt«30. Von Berufung war keine Rede. Ziel seines Theologiestudiums war, vor allem mehr »Klarheit« in geistlichen Dingen für sich selber zu finden. Seine Eltern hatten ihn immer ermutigt, an den christlichen Jugendlagern teilzunehmen. Doch sein Wunsch, Theologie zu studieren, überraschte sie und machte sie zögerlich. Ein Großvater hatte sein Pfarramt niedergelegt. Was sollte ein begabter junger Mann, der kein Pfarrer werden wollte, in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts mit Theologie? Es war kein Studium, um Karriere zu machen. Wusste Wim, dass diese Entscheidung ihn eine glänzende Zukunft kosten könnte? Sein Vater warnte ihn, fand es aber schließlich gut, dass Wim Theologie studieren wollte; vorausgesetzt, er würde parallel auch Jura studieren. Es sollte deutlich werden, dass er nicht nur einer Laune folgte.

      Im Sommer 1918 legte Wim am Stedelijk Gymnasium in Haarlem sein Abitur ab; mit 17 Jahren, also noch sehr jung, um ein Studium aufzunehmen. Es waren die letzten Monate des Krieges. Die Alliierten trieben die deutschen und österreichischen Truppen mit der Hundert-Tage-Offensive zurück. Die Spanische Grippe, die sich weltweit verbreitete, erreichte auch die Niederlande. Das NCSV-Sommerlager dieses Sommers wurde daher vorzeitig abgebrochen. Am 20. September 1918 wurde Wim Visser ’t Hooft achtzehn Jahre alt. Wim folgte den Empfehlungen seines Vaters und begann im Herbst 1918 sowohl mit dem Juraals auch mit dem Theologiestudium in Leiden. Während ihn das Jurastudium von Anfang an nicht begeisterte, und er nur aus Pflichtgefühl in die Veranstaltungen ging, begann ihn die Theologie rasch zu faszinieren. Viel mehr als er erwartet hatte, spielte die Frage der Kirche bald eine große Rolle. In seiner Schulzeit hatten ihn Tolstois Einwände gegen die Kirche als Institution beeindruckt:31 Während das Neue Testament Gewalt verurteilte, gab sich die Kirche durch die Jahrhunderte hinweg als Stütze gewalttätiger Staaten; so, wie auch nun im Krieg, der Europa zerriss. Infolgedessen waren die Kirchen zu ihrer Schande zu antichristlichen Institutionen geworden.32 Dieses Bild begann Visser ’t Hooft nun zu nuancieren.

      In Leiden unterzog er sich, wie üblich, dem Aufnahmeritual der Leidener Studentenverbindung (Leids Studenten Corps), bevor er dort Mitglied wurde und ins Verbindungshaus, die Rapenburg 129, einzog. Es war üblich, sich gegenseitig Beinamen zu geben. Wims Beiname blieb sein Leben lang hängen, wogegen er nichts hatte: Seine Brüder und seine Eltern nannten ihn »Maus«, weil er als Kind ein etwas spitzes, eigenwilliges Gesicht hatte. Diesen Spitznamen gebrauchten auch seine Studienfreunde und seine Frau Jetty33 ebenso wie einige Freunde, etwa Frederik M. van Asbeck, Hermann Rutgers, Nico Stufkens und Conny Patijn.

      In dieser aufregenden Zeit fiel es Wim zunächst schwer, sich auf das Studium zu konzentrieren. Am 11. November kapitulierten die Deutschen und erklärten den Waffenstillstand. Als er zusammen mit drei Freunden aus der Leidener Studentenverbindung in der Kneipe saß, beschlossen sie, nach Brüssel zu fahren, um dort die Ankunft des belgischen Königs Albert zu erleben. Um Zugang zu den offiziellen Feierlichkeiten zu erhalten, fragten sie in den Städten, aus denen


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