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Ein einziger Tag. Kjersti Scheen
gut. Wenn du uns abschleppen willst, lass es uns am besten gleich erledigen.«
Sigge Stiansen warf ihm einen kurzen Blick zu, nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und schnipste die Kippe ins Wasser. »Dann wollen wir mal«, sagte er gelangweilt. »Wir machen das Boot am besten an meiner Boje fest, dann könnt ihr mit zu mir kommen. Ich wohne nämlich gleich da oben am Hang. Falls ihr zu Hause anrufen wollt oder so. Unter der Woche fahren die Busse stündlich, an Feiertagen sieht’s wahrscheinlich etwas schlechter aus. Aber das lässt sich rauskriegen, ich hab einen Fahrplan zu Hause.«
Er legte die Hand auf die Reling und schwang sich elegant in seinen kleinen Kahn. Martin folgte ihm mit dem Blick. Erwachsen sein schien nicht das Schlechteste zu sein. Sigge ließ sich von Fredriks überlegener und mürrischer Fratze nicht aus der Ruhe bringen. Fredrik war ihm scheißegal. Beneidenswert.
3
Sigge Stiansen hatte richtig vermutet: An Feiertagen fuhren kaum Busse in Richtung Stadt.
Drei Stunden bis zum nächsten.
Die Mädchen riefen zu Hause an. Martin rief zu Hause an. Nach einigem Hin und Her rief Nils ebenfalls zu Hause an. Bille sagte, dass er nirgendwo anrufen müsse, weil bei ihm alle mit der Dänemarkfähre unterwegs seien und eh nicht vor Abend zurück wären. Fredrik rief nicht zu Hause an. Als Nils ihn deswegen ansprach, erntete er einen wütenden Blick. »Das hat keine Eile«, sagte er nur.
Sigge Stiansen erkundigte sich, ob sie was gegessen hätten. Sie sahen sich an.
»Ananas«, sagte Vibeke. »Eine Dose. So gegen elf Uhr.«
»Und Chips und Bier«, sagte Nils. »Aber das war gestern Abend.«
»Meine Güte«, sagte Sigge Stiansen. »Gut, dass ich Brot im Eisfach hab.«
Er ging in die Küche und steckte gleich darauf wieder den Kopf zur Tür herein. »Kann mir vielleicht jemand helfen? Wie wär’s mit dir?«, sagte er und nickte Susanne zu, die sonnenverbrannt auf der vorderen Kante eines altmodischen Sessels mit zerschlissenem Wollbezug saß und mit der Hitze kämpfte. Sie erhob sich langsam und ging zu Sigge in die Küche.
Die anderen gingen auf die kleine Terrasse raus.
Sigge Stiansen hatte ihnen erzählt, dass er die Hütte vor ein paar Jahren ausgebaut hatte. Er hatte sie winterfest gemacht und ans Stromnetz angeschlossen. Der Terrassenboden war mit einer dünnen Metallschicht überzogen, an der man sich die Fußsohlen versengte, wenn man barfuß darüberlief. Die einzige erträgliche Stelle war eine alte Binsenmatte.
Nils sah sich suchend um und entdeckte einen ausgebleichten Sonnenschirm. Als er ihn aufspannte, rieselten vertrocknete Fliegen und Mücken auf ihn herunter. Er schüttelte sich angeekelt.
Danach schleppten sie mit lautem Geschepper ein paar klapprige Liegestühle über den Metallboden um sich in den Schatten des Sonnenschirms zu setzen. Vibekes Blick wanderte immer wieder zur Küchentür, die im Halbdunkel des Wohnzimmers kaum zu sehen war.
Martin und Fredrik ging es nicht anders.
Nils und Bille machten es sich bequem und legten die Füße auf das Geländer. Sahen auf den diesigen, spiegelblanken Fjord hinaus. Im Hintergrund lagen die blau schimmernden Hügel von Nesodden, vor Fagerstrand ankerten ein paar Boote. Fredrik konnte nicht still sitzen und lief rastlos zwischen Wohnzimmer und Terrasse hin und her, sah abwechselnd auf die Uhr und zum Boot, das an der Boje vertäut war, griff nach einem Fernglas auf der Fensterbank, stellte es scharf, schaute übers Wasser, legte es wieder auf die Fensterbank zurück, wobei er die Küchentür immer im Auge behielt.
Martin hatte keine Lust, in die Hitze rauszugehen. Er war auf dem verschlissenen Sofa sitzen geblieben und der grobe, senfgelbe Wollbezug kratzte an der Unterseite seiner Oberschenkel. Fredrik hatte bestimmt Schiss seinem Vater zu beichten, dass der Motor im Eimer war. Vielleicht hatte er ja wirklich nicht um Erlaubnis gefragt, ob er mit dem Boot rausfahren durfte. Immerhin wussten Martins Eltern jetzt, wo sie waren, falls Tante Cathrine also mit seiner Mutter telefonierte ...
Fredrik hatte ein zerlesenes Taschenbuch aus dem Regal gezogen.
»Sieh dir das mal an«, flüsterte er und zeigte Martin den Einband, auf dem eine schwarzhaarige Frau mit üppiger Oberweite zu sehen war, die in den Armen eines Mannes lag, der wie Morgan Kane aussah. Der Mann hatte ihr ein Messer an den Hals gelegt, aber die Frau lächelte, als ob sie es völlig in Ordnung fände, dass ihr gerade jemand die Kehle durchschneiden wollte.
»Guck mal, was der für Bücher liest!«
Das muss Fredrik gerade sagen, dachte Martin. Was hat er denn erwartet? Dostojewski? Fredrik las auch ausschließlich Comics.
Aber Martin sagte nichts. Zuckte nur mit den Schultern. Sicherheitshalber.
Vibeke steckte den Kopf zur Terrassentür herein. »Gibt’s bald was zu essen, oder was treiben die da drinnen?«
Fredrik drehte sich ruckartig zu ihr um.
»Guck nicht so«, sagte sie. »Ich mach doch nur Spaß.«
Aus der Küche drangen jetzt leise Geräusche zu ihnen heraus, die nach Essensvorbereitung klangen. Schubladen, die aufgezogen und wieder zugeschoben wurden, scheppernde Schranktüren, Wasser, das in einen Kessel lief. Martin merkte, dass er Hunger hatte. Großen Hunger.
Jetzt brutzelte es dort drinnen und gleich darauf zog der verführerische Duft gebratenen Specks durch den Raum bis auf die Terrasse hinaus.
»Mann«, sagte Nils laut. »Ich hab vielleicht einen Kohldampf!«
Sie waren mit dem Essen fertig. Martin hatte die erste Scheibe Brot gierig heruntergeschlungen, als plötzlich nichts mehr ging. Die Übelkeit vom Morgen war mit einem Schlag wieder da. Er starrte auf seinen Teller, auf dem das flüssige Eigelb sich mit den Schinkenstreifen vermischte. Vielleicht hatte er ja doch eine Gehirnerschütterung. Er schob die Gabel über den Teller und tat so, als ob er genauso eifrig wie die anderen mit dem Essen beschäftigt wäre. Er wollte sich ihre blöden Kommentare ersparen.
Obwohl es wahrscheinlich sowieso niemanden interessierte.
Bille und Nils schmatzten, Vibeke schmierte Butter auf ihre Brotscheibe, Fredrik hatte das halbe Ei auf die Gabel gespießt und war gerade dabei, es in den Mund zu schieben, wobei er den Gastgeber nicht aus den Augen ließ. Der hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und sah Susanne an. Ungeniert. Was Vibeke sehr wohl registrierte, genau wie Fredrik. Susanne saß mit roten Wangen am Tisch und schnitt ihr Ei in kleine Stückchen, bevor sie etwas davon aß. Susanne.
In gewisser Weise hatte Martin vor Susanne fast genauso viel Angst wie vor Fredrik. Sie war zwar nicht so schlagfertig wie Vibeke, aber irgendwie gefährlicher. Tief in ihr drin brannte ein Feuer, an dem man sich gewaltig die Finger verbrennen konnte, wenn man nicht aufpasste. Erst lockte sie einen und dann schlug sie zu. Nicht physisch, aber so war es fast noch schlimmer. Früher war Martin ihr so weit wie möglich aus dem Weg gegangen.
Sie war mitten in der Achten in die Klasse gekommen. Sie sprach Dialekt, womit man an der Schule in Åsen gleich unten durch war. Aber komischerweise hatte sich niemand deswegen über sie lustig gemacht. Nicht einmal Fredrik. Manchmal kam es Martin fast so vor, als ob Fredrik sich von ihr verunsichert fühlte.
Jetzt saß sie da, Schweißperlen auf der Oberlippe, das weißblonde Haar über den sonnenverbrannten Wangen, und verdrehte einem alten Knacker mit selbst gedrehten Zigaretten und breiten Schultern den Kopf.
Es war zum Lachen.
Aber Martin konnte nicht sehen, dass einer von ihnen lachte. Ihm selbst war auch eher zum Heulen zu Mute. Er schluckte. Er war ziemlich sicher, dass er Fredriks Blick richtig deutete: Fredrik war eifersüchtig. Verdammt eifersüchtig. Zuerst hatte er sich mit der Motorpanne zum Idioten gemacht, und nun saß auch noch Susanne da, streckte ihre Brüste vor und hatte dieses klitzekleine Lächeln in den strahlend blauen Augen. Wahrscheinlich war sie sich nur allzu bewusst, was sich da anbahnte. Sie streckte sich nach dem Brotkorb aus, sodass