Der Lebensretter. Anny von Panhuys

Der Lebensretter - Anny von Panhuys


Скачать книгу
wie sie hierhergekommen, mitten auf einer Brücke der Spree. Sie ging mit gesenktem Blick ihres Weges, doch plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Schreie und wildes Gejohl waren jäh hinter ihr laut geworden. Sie wandte sich erschreckt um und sah einen Trupp Menschen hinter einem Mann herjagen, und der Mann kam gerade auf sie zugerast.

      „Aufhalten! Ein Wahnsinniger!“ schrie ein Chor von Stimmen, die zum Brausen anschwollen.

      Liselotte war es, als riefe man es ihr zu, sie dachte nicht daran, dass auch Passanten aus der entgegengesetzten Richtung über die Brücke kamen.

      Sie stand in verzweifelter Starrheit, sie konnte den Wahnsinnigen nicht aufhalten, dazu gehörten andere Kräfte als die ihren.

      Und nun befand sich der Unheimliche, dem das Haar in wirren Strähnen in die Stirn hing, schon dicht vor ihr, keuchte heiser: „Aus dem Weg, Weibsbild!“

      Er stiess nach ihr, und Liselotte, ohne es zu wissen, was sie tat, blind und taub vor Angst und Schreck, kletterte hastig über das Brückengeländer. Sie wollte sich von aussen festhalten, bis man den Tollgewordenen eingefangen hatte.

      Da stürzte er vor, schlug ihr auf die Hände, bis sie sich von ihrem Halt lösten.

      Und ehe noch jemand helfen konnte, wirbelte ein Seidenschal hoch auf wie eine Fahne, stürzte ein schlankes Mädchen hinunter in das graue Wasser.

      Schreie des Entsetzens gellten auf, übertönten das Freudengeheul des Wahnsinnigen, der schon von seinen Verfolgern erreicht und festgehalten wurde. Er schien jetzt ziemlich ruhig geworden und lachte nur:

      „Alle Weiber müssten so ersäuft werden!“

      Ohne den geringsten Widerstand liess er sich wegführen.

      Es handelte sich um einen plötzlich Erkrankten, der unweit der Brücke wohnte, und den man in eine Irrenanstalt hatte überführen wollen. In letzter Minute war er seinen Wärtern entwischt, und Liselotte war sein Opfer geworden.

      Es achtete niemand mehr darauf, auf welche Weise man ihn wegbrachte, alle Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf den schmalen Mädchenkörper, der wie ein grosses Paket auf das Wasser aufgeschlagen war.

      Immer mehr Leute eilten herbei, beugten sich über das Geländer und schauten erregt den erfolglosen Schwimmbewegungen zu.

      Liselottes armer Kopf brachte keinen klaren Gedanken auf, Todesangst, grässlichste Todesangst schnürte ihr die Kehle zu, mühsam würgte sie ein paar Hilfeschreie hervor. Verzweifelt bemühte sie sich, ans Ufer zu kommen, und obwohl sie schwimmen konnte, gelang ihr keine einzige richtige Bewegung.

      Von der Brücke aus beobachtete man voll atemloser Spannung die ergebnislosen Bemühungen des Mädchens, das dem sicheren Tod des Ertrinkens geweiht schien. Man redete lebhaft aufeinander ein, man schalt sich gegenseitig feige, aber keiner wagte den Sprung hinunter, und es gab doch bestimmt ein paar gute Schwimmer unter den vielen Neugierigen.

      Bis jetzt war auch kein Polizist erschienen.

      Plötzlich drängte sich ein Mann von ungefähr dreissig Jahren durch die Menge.

      „Was gibt es hier zu sehen?“ fragte er, und weil er sich inzwischen sehr energisch weit genug vorgeschoben hatte, konnte er sich gleich selbst überzeugen, was unten im Wasser vorging.

      Blitzgeschwind warf er seinen Mantel ab, und im nächsten Augenblick schwang er sich über das Geländer und schoss mit kühnem Sprung in die Tiefe. Mit einigen weitausholenden Armbewegungen teilte er das Wasser, und gleich darauf hatte er die Ertrinkende erfasst und schwamm mit ihr dem Ufer zu.

      Liselotte Wolfram war nahe darangewesen, die Besinnung zu verlieren, gerade im letzten Augenblick hatte sie der starke Arm des Fremden an sich gezogen. Mit seiner Last kam er eben ans Ufer, als ein Schutzmann auftauchte, der ihm nun entgegentrat.

      Ein Herr hielt Liselottes Handtäschchen hoch und erklärte: „Die Handtasche hat die Ärmste verloren, es sind Visitenkarten auf ihren Namen darin.“ Obwohl er den Namen gelesen, nannte er ihn nicht laut. Er hatte das Gefühl, dem jungen Mädchen wäre vielleicht damit gedient. Er reichte dem Schutzmann ein Kärtchen und die Tasche.

      Liselotte triefte vor Nässe, ihr war zum Sterben elend von dem herbstkalten Wasser und der Angst und dem Grauen, die sie eben durchgemacht hatte. Ein Auto war plötzlich zur Stelle, und der Retter half Liselotte in den Wagen. Der Schutzmann schrieb den Namen von der Visitenkarte in sein Notizbuch, und in diesen wenigen Sekunden drängte sich der Retter durch die Menge, fand seinen Mantel, von einem Jungen behütet, und eilte davon.

      Niemand achtete auf ihn, alle Aufmerksamkeit galt dem Mädchen im Auto. Als der Polizeibeamte Namen und Adresse des Retters anfordern wollte, war der Unbekannte fort und nirgends mehr zu sehen. Die Rettungsmedaille schien ihn nicht zu locken.

      Eine ältere Krankenschwester, die zufällig über die Brücke gekommen und den Vorgang miterlebt hatte, erbot sich, Liselotte, die zunächst keiner ärztlichen Hilfe bedurfte, nach Hause zu bringen. Ihr übergab der Schutzmann das Handtäschchen. Im Arm der Krankenschwester lehnte Liselotte Wolfram, und die gute Helferin wurde ebenso nass wie die Gerettete. Liselotte schämte sich dieser Rückkehr vor Vater und Tante.

      Aber die Todesangst, die sie ausgestanden, hatte alle eingeschlummerte Vernunft wieder gründlich wachgerüttelt.

      Sie dachte nicht mehr daran, in die fremde Welt hineinzufahren, um irgendwo draussen zu verderben. Das schien schon weit, weit hinter ihr zu liegen.

      Und sie hätte jetzt auch nicht mehr weggekonnt, weil sie ja nun nichts weiter war als ein armes, durchnässtes Menschenkind, dem zunächst nichts wichtiger auf der Welt schien als das eine, wieder trocken zu werden und sich von dieser Aufregung zu erholen.

      Liselotte schüttelte sich entsetzt bei der Erinnerung an das, was sie erlebt hatte.

      Ihr war es, als sähen sie wieder die tückischen Augen des Wahnsinnigen an, als flüchte sie davor wieder über das Geländer der Brücke und fühle abermals die harten Schläge auf ihre Hände, die sie zwangen, den Halt loszulassen und in das schreckliche graue Wasser zu stürzen.

      3.

      Franz Wolfram war sofort auf den Anruf seiner Schwester nach Hause gekommen. Er fand Ria im Wohnzimmer erregt auf und ab gehend.

      „Nun, was ist mit Liselotte? Ist wirklich Grund vorhanden, dass du mir Angst machtest ihretwegen?“ fragte er hastig.

      Die Schwester antwortete mit zuckenden Lippen:

      „Was weiss ich, ob wirklich Grund vorhanden ist. Ich weiss nur, dass ich vor Angst schon halb verrückt geworden bin. Liselotte war nicht in der Gymnastikstunde, die sie doch so gern hat und sonst nie schwänzt, und als sie wegging, sagte sie zu mir Lebewohl, und ich soll dich grüssen und dich trösten!“

      Er erschrak furchtbar.

      „Liselotte wird doch nicht etwa darandenken, irgendeine Torheit zu begehen, weil sie sich davor fürchtete, die Freundinnen könnten sie verspotten, nachdem sie zu ihnen so bestimmt von der Perlenkette gesprochen und ...“ Wolfram unterbrach sich. „Aber das Hin- und Herreden hat gar keinen Zweck. Wir müssen etwas tun.“

      Ein ungeduldiges Klopfen unterbrach das Gespräch, und auf das ärgerliche „Herein“ des verängstigten Vaters trat der Diener ein, stotterte aufgeregt:

      „Eine Krankenschwester bringt das gnädige Fräulein. Sie ist – sie ist – ins Wasser gefallen, glaube ich, sie ist ganz nass!“

      Schon eilten die Geschwister aus dem Zimmer. Draussen auf dem Flur kam ihnen eine Krankenpflegerin mit grauem Haar entgegen, an ihrem Arm hing Liselotte. Das Wasser rann noch immer an ihr herab und hinterliess, wo sie ging, eine feuchte Spur. Das Haar klebte ihr am Kopfe, der Mantel der Schwester aber lag fest um ihre Schultern. So ging sie schwankend; dicht vor dem Vater aber war ihre Kraft zu Ende, sie brach in die Knie.

      Franz Wolfram zog Liselotte in seine Arme.

      „Schnell ins Bett mit dem armen Ding, schnell, schnell, und der Arzt soll sofort kommen.“

      Er


Скачать книгу