In den Sand gesetzt - Skandinavien-Krimi. Kirsten Holst
seine Mutter müde. Der Drang, zu besitzen, war offenbar angeboren. Kinder konnten schwer zwei zusammenhängende Worte sagen, ohne dass eins davon ein Possessivpronomen war. Meine Mutter, mein Vater, mein Schnuller. Und wehe dem, der ihr Eigentumsrecht anfocht.
»Er sieht auch richtig widerwärtig aus«, sagte der Junge finster. »Er ist alt.«
»Er ist bestimmt Deutscher«, wiederholte Lene. Als würde das alles erklären.
Nahe der Stadt kamen drei, vier redende, kichernde und Eis essende Mädchen von zwölf, dreizehn Jahren die schmale Treppe hinauf, die vom öffentlichen Parkplatz hoch in die Dünen führte. Eine von ihnen lief rückwärts, ein wenig vor den anderen her, während sie rief: »Kommt! Was seid ihr langsam! Habt ihr überhaupt keine Kondition?«
Sie erreichte die oberste Treppenstufe, und als ihr Fuß plötzlich auf nichts als leeren Raum traf, verlor sie das Gleichgewicht, machte ein paar stolpernde Schritte rückwärts und prallte gegen den Bauch eines großen Mannes, der gerade aus dem Weg auftauchte, der zwischen den Hagebuttensträuchern entlangführte. Er verlor die Plastiktüte, die er bei sich trug, warf ihr einen wütenden Blick zu und zischte böse: »Kannst du nicht aufpassen, Mädchen!«, während er eilig die Tüte und ihren Inhalt wieder aufsammelte.
Das Mädchen warf ihm einen erschrockenen Blick zu, murmelte schnell eine Entschuldigung und lief eilig ein paar Schritte den Weg entlang, indem sie sich die Hand vor den Mund hielt, um ein unbezwingbares Lachen zu verbergen. Sie wusste selbst nicht, ob sie vor Schreck kicherte oder weil der Mann in seiner Wut so komisch ausgesehen hatte.
Die anderen holten sie ein.
»Typisch Pia«, sagte eine von ihnen. »Den Leuten genau in den Bauch zu rennen.«
»Hysterischer Kerl!«, sagte Pia. »Das war genauso seine Schuld. Schließlich habe ich hinten keine Augen im Kopf.«
»Männer sind hysterisch«, bemerkte eine der anderen tiefsinnig und die Freundinnen nickten altklug.
»Oh Mann, das sah wirklich komisch aus«, sagte eine und die Mädchen krümmten sich vor Lachen. Sie kicherten noch immer, als sie ein Stück weiter Bo trafen. »Hey Bo!«, rief Pia schon von weitem. »Läufst du bei dem Wetter? Du bist ja verrückt!«
Bo erreichte sie. »Heute sind bestimmt mehrere Tausend Menschen hier am Strand. Könnt ihr mir sagen, warum ich dauernd jemanden treffe, den ich kenne? Und könnt ihr mir zuerst einmal sagen, warum ich jemanden wie euch treffe?«
»Sind da draußen auch so viele?«, fragte Pia und nickte mit dem Kopf Richtung Weg.
»Nein, natürlich nicht. Sobald man hundert Meter weiter geht, ist fast niemand mehr da. Die Leute gehen nicht gerne. Warum auch! Wollt ihr nackt baden?«
Die Mädchen kicherten. »Nur sonnenbaden«, sagte Pia. »Spendierst du uns ein Eis?«
»Ein Eis? Euch? Ihr müsst verrückt sein, wenn ihr das glaubt!«
»Ach Bo, bitte!« Die Mädchen sahen ihn flehend an und lächelten einschmeichelnd.
»Okay«, sagte Bo, zog ein Bündel Scheine aus der Hemdtasche und gab Pia einen. »Aber nur unter der Bedingung, dass ihr nicht jetzt da runtergeht und Eis kauft. Ich will nicht so einen Haufen Papageien im Schlepptau haben. Die Leute könnten ja denken, ich sei euer Vater.«
Ihr Vater! Die Mädchen krümmten sich vor Lachen. Bo war 25 und sie waren alle ein bisschen in ihn verliebt. Sie gingen kichernd weiter. Bo blieb einen Moment stehen und sah ihnen kopfschüttelnd nach. Er konnte sich nicht erinnern, dass er und seine Freunde jemals so gewesen waren. Über alles und nichts gelacht hatten. Hatten Mädchen es wirklich so viel lustiger? Dann ging er in normalem Tempo Richtung Treppe.
Als er gerade hinuntergehen wollte, sprang ihm etwas ins Auge, das in den Hagebuttensträuchern lag. Ein Schuh. Ein Herrenschuh.
Sein erster Gedanke war, ihn liegen zu lassen. Er war bereits ein paar Stufen hinuntergegangen, als er plötzlich eine Idee hatte. Er ging zurück zu dem Hagebuttenstrauch, beugte sich hinunter und fischte den Schuh heraus, während er halblaut murmelte: »Hallihallo, hier komme ich! Guck mal, was ich gefunden habe.« Er sprang die Stufen hinunter, während der helle Sommerschuh an seinem Zeigefinger hing und hin- und herbaumelte.
Weltschmerz, dachte Kriminalkommissar Høyer. Das war das richtige Wort. Ein Anfall von Weltschmerz. Depression klang zu hart, zu klinisch. Auch wenn es genau das war. Eine Postferiendepression.
Er war im Bad gewesen, hatte sich umgezogen und stand jetzt auf dem Schlafzimmerbalkon, die Hände auf die Brüstung gestützt, und sah in den Garten hinunter, während er versuchte, seine Gefühle zu analysieren. Vor weniger als acht Stunden hatte er genauso auf einem anderen Balkon gestanden, mehrere tausend Kilometer entfernt, mit Aussicht auf Meer, Strand, Ferienhotels und exotische Pflanzen. Aber in Gedanken war er bereits hier gewesen. Es kam vor, dass die Seele nicht sofort folgen konnte, wenn man eine Reise antrat, dafür aber bereits vor einem selbst wieder nach Hause zurückkehrte. Es lag nicht daran, dass die Ferien kein Erfolg gewesen waren. Er hatte sie in weit höherem Ausmaß genossen, als er erwartet hatte. Vierzehn Tage in einem Touristenparadies – das hatte nicht wie sein Traum von Ferien geklungen, er war kein Sonnen- und Strandanbeter. Aber Mallorca hatte weit mehr als Strand und billigen Alkohol zu bieten gehabt. Trotzdem war da plötzlich das Gefühl aufgetaucht, dass es reichte. Er war fast erleichtert gewesen, als er dort auf dem Balkon gestanden und gedacht hatte, dass er bald wieder zu Hause sein würde. Und plötzlich hatte es ihm nicht schnell genug gehen können. Ein überwältigendes Gefühl von Heimweh hatte ihn gepackt. Und er hatte den Eindruck gehabt, dass er weinen würde wie ein Kind, das sich verlaufen hatte, wenn die Heimreise sich aus irgendei– nem Grund plötzlich verzögern würde. Er lächelte ein wenig über sich selbst. Und jetzt war er zu Hause und trotzdem stimmte etwas nicht. Es war nicht die übliche leichte Depression, die er immer hatte, wenn er mitten am Tag Alkohol trank – auch wenn er im Flugzeug vielleicht nichts hätte trinken sollen –, es war eher Enttäuschung. Das Haus hatte so fremd gewirkt, fast feindlich, als sie es betreten hatten. Die Zimmer hatten im Halbdunkel hinter heruntergelassenen Jalousien gelegen und es hatte merkwürdig gerochen, fast unbewohnt. Und der Garten! Høyer seufzte leicht. Er hatte unbestreitbar wenig Ähnlichkeit mit dem Bild, dass er am Morgen auf dem fernen Balkon vor sich gesehen hatte. Der Rasen sah gelb und ungepflegt aus, Rosen und Dahlien hatten überall welke Blüten, einige Stauden waren umgeknickt und lagen auf dem Boden, alles wirkte unordentlich und vernachlässigt.
Høyer schämte sich ein wenig über sich selbst. Es war eine kindische Enttäuschung, die er empfand. Er hatte davon geträumt, in ein Haus zurückzukommen, das aussah, als hätten sie es nie verlassen. So, wie er in der Kindheit nach den Ferien nach Hause gekommen war.
»Bist du fertig?«, rief seine Frau von unten.
»Ja.« Høyer strich sich übers Kinn. Trotz allem hatte es geholfen, sich zu rasieren und ein Bad zu nehmen.
»Der Kaffee ist fertig. Aber vielleicht willst du lieber ein Bier?«
»Nein, um Himmels willen! Ich glaube, Kaffee ist genau das, was ich jetzt brauche.«
Es roch nach Kaffee, als er die Treppe hinunterkam. Und er begann, sich besser zu fühlen. Ein heimeliger Duft. Unten konnte er die eiligen Schritte seiner Frau hören. Das Haus begann, wieder lebendig und vertraut zu werden.
Er warf einen Blick in den Spiegel, als er durch die Diele ging. Die Sonne hatte ihn etwas verbrannt, die Nase schälte sich, die neue Haut sah hellrot und unfertig aus. Bisher hatte er sich keine Gedanken darüber gemacht, dort unten sahen viele so aus. Jetzt kam es ihm plötzlich fast unanständig vor.
Mein Gesicht sieht aus wie ein Affenhintern, dachte er.
Er ging durchs Wohnzimmer. Die Türen zur Terrasse standen offen. Die Gardinen waren zur Seite gezogen, Rigmor hatte bereits die Blumen auf die Fensterbänke zurückgestellt und auf dem Tisch stand eine flache Schale mit Rosen.
Er rieb sich die Hände, als er hinausging und sich an den Gartentisch setzte. Er blickte über den Garten.
»Ich