Das Haus des Vaters. Helle Stangerup
gesagt, daß er noch dreißig Jahre leben würde, hätte sie es nicht geglaubt. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, daß er je jung gewesen war.
Als Pts rote Hausfrauenhand die Schlafzimmertür öffnete, schlug Nanna stickige Dunkelheit entgegen. Sie zögerte einen Augenblick. Es war das einzige Zimmer im Haus, das sie niemals von innen gesehen hatte. Die Sonne malte kleine, graue Kreise auf die Vorhänge. An den Wänden hingen von der Decke bis zum Boden Goldrahmen. Die Bilder in den Rahmen konnte sie nicht erkennen. Nicht eine Lampe brannte. »Zu spät«, brüllte die Stimme mit überraschender Kraft. »Hat sich dein Grünschnabel das Auto gemopst? Ohne Führerschein?«
»Ja«, sagte Nanna, weil es am einfachsten war. Stiefvater führte alles in ihrem Leben darauf zurück, daß sie in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten war und das Kind behalten hatte. Daß sie Nikolai bekommen hatte. Nikolai und Stiefvater waren sich nie begegnet. Darauf hatten sie verzichtet.
Nanna folgte der Stimme zum Bett. Sie senkte den Kopf und streckte die Hand aus. So nah waren sie sich noch nie gewesen. Knochige Finger berührten ihre Hand.
Sie hatte sich an die Dunkelheit gewöhnt. Seine Augen bewegten sich ruckhaft, wie bei Insekten, tief auf dem Grund zweier Schalen. Die Nase ragte hervor wie der einzige Haken, an dem das Leben noch hing. Nanna trat einen Schritt zurück. Dann drehte sie sich um.
Die Enkelkinder fehlten. Stine, die sich zu einer Schönheit entwickelte, Tatjanas Hippie-Kim und deren drei Mädchen sowie die beiden Jungen von Alex. Sie waren nicht gekommen. Nur die ältere Generation saß im Halbkreis hinter dem Bett, wie arrangierte Figuren in einem Garten.
Am Fußende stand der holländische Tisch mit den Blumenintarsien und den vergoldeten Bronzebeschlägen. Normalerweise war er im Eßzimmer, zwischen den Ortmann-Möbeln. Der Tisch war gedeckt wie immer. Die ein Kilo schwere, blaue Dose mit grauschwarzem Kaviar auf zerstoßenem Eis in einer Glasschale mit Löchern auf einer größeren Glasschale, das Ganze auf einem silbernen Ständer mit sechs Beinen. Ringsherum flache Schüsseln mit kleinen, runden Blinis, zu einer Schaumkrone gerührte Crème fraîche und gehackter Knoblauch in Pyramidenform. Toast Melba war auf einer runden Schale angeordnet, daneben rot-blaue Royal-Crown-Derby-Teller. Messer und Gabeln waren aufgereiht, ebenso die Kristallgläser und die gefalteten Damastservietten. Zwei Weinkühler mit grünlichen Flaschen und feuchten Etiketten und der Aufschrift Montrachet, 1969, vollendeten die Tafel. Abgesehen davon, daß Mitte der siebziger Jahre der Jahrgang des Weines einmal ein anderer gewesen war, war seit dreißig Jahren alles gleich geblieben. Hundertzwanzigmal. Die Messer hatten dasselbe Gewicht. Die Gabeln. Die Gläser. Die Teller. Der Geschmack war der gleiche. Derselbe Tisch, im dunklen Winter wie im hellen Sommer, von Nannas achtem Lebensjahr an, als Stiefvaters drei unverheiratete Schwestern noch dabei waren und in schweren Kleidern und breiten Schuhen schweigend Kaviar kauten. Als Mutters Summen zum erstenmal aus der hintersten Ecke des Eßzimmers erklungen war.
Und die neun Male, als Nikolais Vater dabei war. Neun-Quartals-Ehe hatte Lisa einmal gesagt, als hätte Stiefvater auch dafür einen Kalender eingeführt. Nanna fühlte sich plötzlich beengt. Sie fühlte sich unterdrückt und ängstlich. Sie begrüßte die anderen. Ulrik ganz links in etwas, das aussah wie ein Blazer. Rotgesichtig, kahl, knapp sechzig, Pressechef einer Handelsgesellschaft. Er wischte sich ständig die Hände an der Weste ab, als sei das Gefühl, Untergebener zu sein, ein Kleidungsstück, das man gerne abstreifen möchte. Das volle Gesicht hellte sich auf, als er sagte: »Hallo, Nanna-Mädchen.« Dieselben Worte wie immer, aber ohne die Herzlichkeit der vergangenen dreißig Jahre.
Lisa im blauen Lederkostüm und mit blondem Haar. Einrichtung und Design waren ihr einziges Talent. Erwähnte jemand den Untergang des Römischen Reiches, würde sie glauben, es handle sich um eine italienische Designerfirma. Ihr Sinn für Formen und Farben war entsprechend.
Lisa konnte nur etwas durch Anfassen schaffen, mit gespreizten Fingern und festem Griff. Wände, Böden, Möbel und Stoffe, und ohne abgebrochene Fingernägel zu scheuen. Mit dem Zauberstab der optischen Täuschung schuf sie phantastische Wohnungen und vervollkommnete sogar ihre eigene Erscheinung durch millimetergenaue Entwürfe und Schnitte. Sie verdeckten, wie sich der Rock um die Hüften spannte und daß der linke Fuß fast senkrecht gestreckt war, damit er in den hohen Absätzen den Boden erreichte. Die Ehe hatte gehalten. Ihr Triumph. Stine, die hübsche, intelligente Tochter. Ihr Stolz. Lisa lächelte kühl: »Nett, dich wiederzusehen.«
Die hingestreckte Hand hing schlaff in der Luft. Sie war nicht in ihrer kreativen Phase. Claus hatte sie »Frau Konsulin« genannt, doch Lisas Wahrnehmung war nicht auf Sprache sensibilisiert. Sie hielt den Spitznamen für ein Kompliment.
»Tag«, sagte Alex nur. Schon Ende Vierzig, haftete ihm immer noch etwas Militärisches an. Gerade wieder eine Scheidung spielend hinter sich gebracht. Ehen waren für ihn wie die Ballspiele aus seiner Kindheit, einfach den Ball der nächsten Frau zuwerfen, die bereit war, ihn zu fangen.
Alex nahm Nanna bei den Schultern. Umarmte sie kurz. Sie wachte auf. Schüttelte sich und kam zu sich. Er lachte, glich dem Vater. Wie eine Säule. Alex war Abteilungsleiter, untergebracht in einem Nebenbüro, aber immerhin, nur eine Tür entfernt von Stiefvaters großen, blankpolierten Direktionsräumen.
Nanna blickte in ein breites Lächeln und dunkle, fremde Augen. Der Vater war nur die äußere Hülle. Das übrige kam von anderswo. Nanna hatte sich bisher nie Gedanken darüber gemacht. Über Wurzeln und Ursprünge oder wie die ersten beiden Frauen Stiefvaters eigentlich gewesen waren. Hatte sich auch nie vor etwas anderem gefürchtet als den tagtäglichen Gefahren – einer plötzlichen Krankheit oder davor, einen Radfahrer beim Rechtsabbiegen zu überfahren.
Tatjanas schmale, graue Augen waren Lachschlitze, und sie war noch immer schmal und schlaksig. Das Haar war nach wie vor strähnig und ihr Leben ein ewiges Dahintreiben, wie ein Baumstamm auf einem Fluß. Egal was passierte, nie war es ihre Schuld. Die Natur hatte sie weder mit Ruder noch Segel, noch einem Steuermann ausgestattet.
Deshalb war alles auch nicht so schlimm. Zwei Scheidungen, fünf Abtreibungen, vier schreckliche Kinder, ebensoviele versiebte Examina und Kündigungen, ein Dutzend Liebhaber auf wilder Flucht über Gartenzäune und Berggipfel. Eine Aneinanderreihung von Banalitäten, so nannte sie sich selbst. Tatjana war unter dem Sternzeichen Chaos geboren.
Doch es lag eine Dissonanz in der Stimme. Was man nicht hörte, wenn der Tisch mit den Blumenintarsien im Eßzimmer stand. Oder war es erst seit heute?
Nach dem Tod von Claus hatte Stiefvater seine Schwiegertochter nicht fallenlassen. Camilla gehörte dazu und wurde finanziell unterstützt. Ihr einziges Kind, der dicke Michael, verduftete mit sechzehn nach Afrika, wo er zwei Jahre später in den sodahaltigen, von Krokodilen bevölkerten Gewässern des Lake Rudolf ertrank. Nur sein Boot wurde kieloben treibend gefunden.
Aber Camilla gehörte nach wie vor dazu. Die Zeit zwischen den beiden Todesfällen bewältigte sie mit phantastischen Geschichten über die Stellung des Sohnes als Chef eines Luxushotels. Unglückseligerweise gab es jemanden, der jemanden kannte, der bis zu dem gottverlassenen See an der Grenze zwischen Kenia und Äthiopien vorgedrungen war und von dem Leben und Treiben des Barkeepers gehört hatte.
Danach wurden Claus, Michael und Lake Rudolf unter der Sammelbezeichnung »Namen, die keiner mehr kennt« zusammengefaßt. Camilla, die keine Ahnung hatte von ostpreußischen Existenzen, konnte nicht wissen, daß diese Namensgebung von Pt und ihrer nostalgischen Marotte für ein Familienschicksal in der Gegend um Königsberg herrührte. Und die Worte wirkten und breiteten einen sowohl bedauernden wie abwehrenden Schleier über die Tragödie, während Camilla ihr Leben mit Hilfe dreier Eckpfeiler, den Quartalsabenden, ihren Bridgeabenden und leidenschaftlichen Essen im Gleichgewicht hielt.
Camilla trug etwas Geblümtes, das sich über ihren gewaltigen Körper ergoß. Ihre blutroten Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln, und sie flüsterte Nanna zu, »Weißt du etwas?« »Nein, nichts«, erwiderte Nanna leise. Sie kannte die Frage. Camilla befürchtete, daß die finanziellen Zuwendungen beim Tod des Stiefvaters versiegen würden.
»Du bist ja in der gleichen Situation«, sagte Camilla und strich zärtlich über Nannas Arm. »Wir sind alle Opfer, nicht wahr?«
Auch das