Das Haus des Vaters. Helle Stangerup

Das Haus des Vaters - Helle Stangerup


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in der Nähe der Tür.

      »Na, begeben wir uns jetzt zu Tisch und zum Kaviar?« Ulrik hatte sich erhoben und seine Weste glattgestrichen. Die Stimme klang vergnügt und munter. Er hatte bereits einen Teller genommen.

      »Nein«, ertönte es vom Bett.

      Ulrik stand mit dem Teller in der Hand da. Er wippte ein wenig. Dann setzte er sich und warf den anderen einen ratlosen Blick zu. Lisa trat nach Frauenmanier ans Bett.

      »Ein bißchen Kaviar kann doch nicht schaden. Nicht wahr, Schwiegervater? Es ...«

      »Mir ist übel.«

      »Sollen wir schon mal anfangen?« versuchte es Lisa erneut.

      »Was hast du gesagt? Sprich lauter, ich kann dich nicht hören. Du hast schon immer geflüstert.«

      »Sollen wir schon anfangen?« rief Lisa und spreizte vor Anstrengung ein wenig die Arme.

      »Nein.«

      »Ja, willst du ... daß wir gehen?« Lisas Stimme senkte sich, so als sei sie gekränkt, wie immer, wenn sie anderer Meinung war.

      »Nein.«

      Von der oberen Glasschale fielen vier Tropfen in die untere. Lisa schwankte ein wenig und warf Ulrik einen hilflosen Blick zu.

      »Jetzt hör doch mal, Vater, das hier ...«

      »Wo ist meine Katze?« ertönte es vom Bett.

      Pt schlüpfte lautlos zur Tür hinaus, und ein Hauch kühler Luft streifte Nanna.

      Ulrik versuchte es erneut.

      »Jetzt hör mal, Vater, das hier ...«

      Pt kam mit der grauen Katze herein. Sie hing schlaff auf ihrem Arm und glich einer Pelzstola. Ein Lächeln spielte um ihre geschlossenen Lippen, und sie setzte die Katze aufs Bett. Die knochigen Hände hoben sich und liebkosten das graugestreifte Fell.

      Die Katze schnurrte und machte einen Buckel vor Wohlbehagen. Der Schwanz ragte senkrecht nach oben. Aus der oberen Glasschale tropfte das Eis wie ein stiller, sanfter Frühlingsregen. Ein Anblick, den Nanna schon hundertmal erlebt hatte, aber bisher immer erst, wenn der Kaviar schon fast verspeist war.

      Manchmal waren diese Abende wie Erinnerungen. Als blättere man in einem Album. Bilder, Laute, auch von anderswo, erschienen wie Werbespots. Ganze Sätze. »Man hätte sie doch zur Adoption freigeben sollen. Ihre armen, freundlichen Eltern, und dann eine so tragische Geschichte. Daß sie das haben erleben müssen!« Nanna hörte die Bemerkung einer der anderen Mütter auf dem Schulhof. Sie betrachteten Nannas Mutter immer mit Bewunderung. Oder Mitleid. Oder Neid. Nanna schauten sie nie an.

      »Sollen wir nicht einfach verduften?« sagte Alex. »Warum ist es hier auch so höllisch warm?«

      »Rechtsanwalt Green kommt morgen«, wisperte Tatjana.

      »Um zehn Uhr.«

      Tatjanas Mund stand einen Augenblick lang offen.

      »Es wird ihm doch nicht einfallen, jetzt das Testament zu schreiben?« Alex klang verwirrt.

      Alle wußten genau, wie laut man reden konnte, ohne daß Stiefvater sie verstand. Tatjana vergrub sich nur noch mehr in ihrem Stuhl, wie zur Belagerung bereit, und das Eis schmolz schneller und hinterließ nasse Streifen auf dem Glas.

      »November in einem Jahr werde ich sechzig.«

      Ulrik redete ernst und feierlich. »Zwanzig Jahre bin ich Pressechef gewesen, ausgestattet mit Schere und Leim. Kein einziges Mal durfte man mit einer Bemerkung kommen, nie durfte man eine Presseerklärung verfassen, ohne ... ohne daß Vater sie umformuliert hätte. Nur Demütigungen. All diese Demütigungen, nur Schere und Leim.«

      »Deshalb hat Claus es gemacht«, sagte Camilla. »Deshalb.«

      »Dann tu jetzt etwas«, sagte Alex kalt zu seinem Halbbruder.

      »Er kann dich ja nicht zwingen hierzubleiben?«

      »Emma«, ertönte es vom Bett.

      Pt beugte sich vor, hörte ihn an und nickte kurz. Dann ging sie zur Tafel, nahm einen Teller und einen Löffel. Sie schöpfte Kaviar auf den rot und blau verzierten Teller.

      »Katzen lieben Fisch«, sagte Tatjana leise.

      »Miez, Miez«, sagte die alte Stimme vom Bett, als Pt den Kaviar reichte. Die Katze fraß im Stehen. Sie leckte die grauschwarzen Kügelchen lautlos und genüßlich auf. Ulrik verbarg den Kopf in den Händen. Lisa schaute mit zusammengepreßten Lippen starr vor sich hin. Tatjana kicherte, und Camilla sah hungrig aus.

      Es traf wahrscheinlich zu, was Ulrik sagte, daß sie, Nanna, die einzige war, die Stiefvater anständig behandelt hatte.

      »Deine Ehe ein Scherbenhaufen. Dein Examen ein Scherbenhaufen.« Stiefvaters Worte vor fünfzehn Jahren in seinem Büro. Nikolai war damals noch keine zwei Jahre alt und fing gerade an, Käfer, Fliegen, Ameisen, Legosteine und Playmobilmännchen in den Mund zu stecken. »Schreib ein Buch, egal worüber. Du bekommst meinen besten Lektor. Du hast in der Schule die besten Aufsätze geschrieben. Ich will, daß du vorankommst. Ich will, daß du deinen eigenen Weg gehst.«

      Nanna verstand nie ganz, daß der Kampf einer Achtjährigen um ihren Christbaum soviel bewirken konnte.

      »Emma«, ertönte jetzt Stiefvaters Stimme. »Gib ihnen etwas zu trinken. Aber nur soviel, daß sie noch fahren können.«

      Pt nahm schweigend den abgeleckten Teller.

      »Ich will nicht, daß noch mehr von meinen Autos ruiniert werden«, fügte er mürrisch hinzu.

      Mit einer Serviette um die Flasche, das Kreuz durchgedrückt, schenkte Pt mit der Gewandtheit der Hausfrau Wein in die Kristallgläser ein.

      »Sagte er ›noch mehr Autos‹?« fragte Camilla ungläubig.

      »Er sagte ›noch mehr Autos‹. Er sagte auch ›meine‹. Das ist das Finale«, erwiderte Tatjana und drehte an ihren Haaren. Pt verteilte die Gläser. Ihre Schritte wie ein Taxameter. Sie ging mit dem Tablett bis zum Tisch und weiter zur Kommode, wo sie eine Schublade herauszog. Mit dem Pillenröhrchen in der Hand tippelte sie zurück zum Kopfende des Bettes.

      »Deine Schlaftablette.«

      »Gib ihm eine Handvoll«, sagte Tatjana ohne nachzudenken. Alex stieß seine Schwester an. »Wenn er stirbt, haben wir es mit der da zu tun. Stimmt’s, Pt? Die Kinder gegen die böse Stiefmutter. Kälte gegen Kälte. Bruder gegen Schwester.«

      »The greatest war of all wars is the family war«, sagte Nanna und trank von dem Wein.

      »Wahr gesprochen. Wo hast du das her?« fragte Alex.

      »Weiß nicht mehr. Irgendwo gehört«, erwiderte Nanna.

      Lisa griff nach einer Gardine, zog aber die Hand schnell zurück, als könne der Ekel die Fingerspitzen beschmutzen.

      »Und dann ihr Geschmack!«

      »Hat sie sicher im Netto gekauft«, meinte Camilla. »Können wir nicht etwas Brot nehmen? Ich sterbe vor Hunger.«

      »Dazu gehört schon mehr«, kicherte Lisa.

      »Du kannst leicht spotten«, erwiderte Camilla. »Dein Leben war einfacher.«

      Auf einmal verspürte Nanna einen kleinen Ruck. War das in ihr oder kam es von außen? Für einen Moment verschob sich alles ein wenig.

      Nanna stellte das halbvolle Glas langsam ab. Sie hatte diesen Zustand schon einmal gehabt und wühlte in der Erinnerung. Es war in Bangkok. Im März 1975. Sie saß auf einer Steinbank am Fuße des Tempels der Morgenröte, als dieser Schub kam. Sie hatte sich an den Kopf gefaßt, sah dann aber, daß andere entweder dasselbe machten oder davonliefen und dabei hinaufschauten zu der riesigen steinernen Spitze des Tempels. Später stellte sich heraus, daß das Erdbeben auf der Richterskala nur mit drei registriert worden war. Aber so schwere Erdbeben gab es in Dänemark nicht.

      »Ich


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