Das Haus des Vaters. Helle Stangerup

Das Haus des Vaters - Helle Stangerup


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Alex.

      Sie wirkten beide so zerbrechlich. Nicht physisch, aber irgendwie existierten sie nicht richtig. Vielleicht, weil ihre Wurzeln bei dem vergeblichen Bemühen, zu wirklich nahrhaftem Grund vorzudringen, dünn und lang geworden waren.

      Stiefvater hatte Nanna eine Ausbildung und Reisen ermöglicht, hatte Lob und Belohnung für sie gehabt. Nie für seine eigenen Kinder. Für Nanna aber eine Schule in Südengland und die Sorbonne in Paris. Für seine Kinder nichts. Nanna hatte fünf Kontinente gesehen, während Stiefvater mit seiner eigenen Jugend als handfestem Alibi die anderen auf die nächste Umgebung beschränkt hatte, das Kommunale, das Minimale. Die Macht des Exemplarischen hießen die unverrückbaren Zaunpfosten, die um ihr kleines Stück Land in den Boden gerammt waren. Und sie waren innerhalb des Zaunes geblieben. Sie nahmen nie den großen Anlauf, um hinüberzuspringen. Ulrik und Alex wirkten manchmal fast durchsichtig.

      Doch zurück zu dem Erdbeben, das es in Dänemark nicht gab. Und offenbar hatte nur sie diesen Ruck bemerkt, hatte nur sie den absonderlichen Geschmack im Mund und einen gewaltigen Durst. Sie trank noch einen Schluck, aber alles wurde nur schlimmer. Die Stimmen um sie klangen, als würden sie aus einem anderen Zimmer kommen.

      »Hat Tatjana nicht etwas von dem Testament erwähnt?« Das war Ulriks Stimme.

      »Green kommt morgen ... Um zehn ...«

      Nanna sah die Mundbewegung wie durch einen Filter. Ihre Worte wurden ein Lallen, sinnlos und albern. Erneut innere Erdbeben. Eine Vergiftung. Sie wollte um Hilfe rufen. Aber der Schrei blieb im Hals stecken, der ausgetrocknet war wie eine Wüste.

      Sie wußten es. Stellten sich ahnungslos, weil sie es geplant hatten. Es durchführten. Endlich, nach all diesen Jahren. Wie eine Ziffer aus hundertzwanzig Quartalsabenden erschien das Ostern, als sie erzählt hatte, daß ein Taxifahrer in London sie für eine Irin gehalten habe. »Are you Irish, Miss?« Sie hatte damit geprahlt.

      Damals war sie gerade vierzehn gewesen. Soviel hatte sie gelernt. Fast kein Akzent. War so stolz. Aber Ulriks Blick sprach Bände, er hatte es nur bis zur Realschule geschafft. Lisa hatte seinen Arm genommen und beruhigend gesagt: »Sie ist nicht erbberechtigt.«

      Nanna war wie gelähmt. Doch das Gedächtnis funktionierte. Vielleicht hatte es schon mit dem Weihnachtsbaum im Hause ihres Vaters angefangen. Als jede einzelne Kerze ihm die Niederlage vor einer Achtjährigen entgegenstrahlte. Sie hatte das noch nie so gesehen. Nie so aufgefaßt. Erbberechtigt waren ja die anderen. Nicht sie.

      Sie kämpfte mühsam darum, ihre Gedanken zusammenzuhalten. Der Schrei verteilte sich über ihren ganzen Körper. Und alles drehte sich, verwandelte sich zum Schrei eines anderen. Den sie aussortiert hatte beim Umblättern des Albums. Der zwischen den Seiten festgeklebt war, die sie stets zusammenpreßte, damit er nicht entschlüpfte. ... ein Unfall ... Unfall ... Unfall ...

      Von weit, weit weg, wie von einer fernen Küste ertönte Tatjanas Stimme. Sagte etwas von später Rache. Ihr rötliches Haar war ein Pinselstrich, die Bewegung einer Farbe. Glas zersplitterte, und der Laut schob Nannas Angst wie aus Platzmangel beiseite. Die Glasscherben blitzten in allen Regenbogenfarben. Wie Aladins Höhle mit Kristallen und Edelsteinen. Die Früchte bestanden aus leuchtenden Steinen. Stämme und Zweige aus Metallen. Schimmernd, kostbar und kalt. Sie nahm sich eine Weintraube in der grell absinthgrünen Farbe der Dekadenz. Aber die Trauben entzogen sich ihr, verschwanden in einer endlosen Spirale. Das Absinthgrün wurde erst Smaragdgrün, dann dunkles Wintergrün und dann wurde ihr schwarz vor Augen.

      Nanna spürte ihren Hinterkopf. Anders als nach zwei Pakkungen Zigaretten. Ihr Mund und die Augen waren voller Sand. Sie mußte lange geschlafen haben.

      Direkt vor ihr waren tote Krabben. Rote, gekochte, tote Krabben in einer Schüssel auf einem Tisch. Die haarigen Beine ragten seitwärts aus den Körpern. Etwas links davon tote Enten. Drei an der Zahl. Ihre Füße wie Löffel. Sie hingen an einer Schnur über einer Schale mit Nüssen.

      Nanna griff sich an den Kopf. Schloß die Augen. Öffnete sie wieder. Tageslicht fiel durch die Gardinen ins Zimmer, und der schwere Geruch von altem Knoblauch hing in der Luft. Die Bilder an den Wänden von der Decke bis zum Boden. Die Dunkelheit des Abends hatte die Motive verdeckt. Es handelte sich um eine große Sammlung Natura morta.

      Vor den Krabben stand jetzt Alex und schaute auf sie herunter. Tatjana schüttelte den Kopf. Lisa und Camilla schliefen im Sitzen, aufgelöst und mit verschmierter Schminke, wie nach einem Langstreckenflug, und auf dem Boden lag ein zerbrochenes Kristallglas. Nannas Blick wanderte weiter. Von den Schalentieren zu den Blumen, von den Vögeln zu den Fischen, noch mit Haken im Maul, blank schimmernd und leblos.

      Pt stand aufrecht an der Tür, das Gesicht verzogen, als sei auch sie eben erwacht. Die Frisur hatte sich aufgelöst, das Haar hing in Strähnen auf die Schulter und machte aus ihr plötzlich einen anderen Menschen. Ulrik stöhnte auf seinem Stuhl und betrachtete bekümmert die Spuren der Katze auf der Kaviardose.

      »Was ist passiert?« fragte Alex, als wüßte er nicht, an wen er sich wenden sollte.

      Pt griff sich an den Kopf. Sie erschrak, versuchte, die Haare zu ordnen, als sei die Frisur ihr heimlicher Schutz. Blitzschnell steckte sie die Kämme fest und befestigte die Nadeln. Die Hände fanden jede lose Strähne. Dann sagte sie bestimmt: »Ich werde Kaffee machen.«

      »Was soll denn das? Was zum Teufel ist das für ein Gift, das du uns da verabreicht hast?« Ulrik brüllte Richtung Tür, die sich hinter Pt lautlos schloß.

      »Wie spät ist es?« stammelte Camilla.

      »Acht, mindestens«, antwortete Tatjana artig. »Ich dachte, die Alte will uns umbringen.«

      »Wach auf«, rief Ulrik Lisa zu.

      Nanna merkte, daß sie sich bewegen konnte. Sie erhob sich vorsichtig. Ging zur Verandatür und schob sie auf. Zu mehr war sie nicht fähig, und sie lehnte sich an den Türrahmen.

      Sie war benommen, wußte nicht, was sie getrunken hatte. Und was geschehen war. Und zu erschöpft, um hinauszugehen in den Garten. Sie wußte nur, daß sie offenbar eine irrsinnige Angst gehabt hatte, wie in einem überhitzten Gewächshaus. Wie bei einem LSD-Rausch. Sie waren allesamt vergiftet worden. Es gab zu viele Indizien. Sie verlor den Überblick und hörte hinter sich Stimmen durcheinanderreden. Einige schlaftrunken, andere erregt.

      Der Geruch von frischem Gras und der Anblick von kleinen, glänzenden Spinnweben. Der Rasen blitzte im Licht der verbotenen Morgensonne, die hinter dem verbotenen Meer aufgegangen war. Und hinter ihr das Zimmer, das sie nie hatte sehen wollen.

      In einem Schlafzimmer wohnen Träume, Lüste und Laster, Krankheiten, das Schöne und das Häßliche. Anfang und Ende. Sie war dem Inneren des Knotens, der Stiefvaters Leben ausmachte, zu nahe gekommen. Zu nahe dem Inneren dieses Hauses, in dem alles wohnte.

      Alles hatte sich hier ereignet, war in Hvidager eingezogen. Auch ihr Leben, obwohl sie hier nur zu Besuch war. Ihre Freundschaften. Zeugnisse. Weihnachtsbäume. Der erste Tag im Gymnasium. Sogar eine Bemerkung auf dem Schulhof. Und auch Mutters Schreien am Telefon. Er hatte die vergessenen Schreie und den schwarzen Telefonapparat mit der Wählscheibe mitgenommen, und den Unfall, über dessen Hintergründe sie nie etwas erfuhr.

      Aber Nanna war die einzige, die Stiefvater jemals anständig behandelt hatte. Keiner hatte hinzugefügt, daß sie ihn als einzige, irgendwo in ihrem Innern, mochte. Ein Gewirr von Gedanken, und sie war stundenlang vergiftet und betäubt gewesen.

      Draußen auf dem Sund lagen die Boote mit den weißen Dreiecken in kühler, schwebender Ruhe. Die Angst begann zu schwinden.

      Hinter ihr ertönte lautes Gezanke.

      »Pt hat zuerst den Wein eingeschenkt und danach die Tabletten genommen.«

      Es war Tatjanas Stimme.

      »Sie hat den ganzen Tag Zeit gehabt, den Wein zu vergiften«, rief Ulrik.

      Etwas strich um Nannas Bein. Es war die Katze. Sie setzte sich auf die Türschwelle und begann, ihr Fell zu lecken. Ihre Zunge färbte sich rot.

      Dann senkte sie den Kopf und richtete ihren Blick auf


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