Das Haus des Vaters. Helle Stangerup
dem Begräbnis.«
Er streckte die Hand zu einer formellen Verabschiedung aus. Eine Sekunde lang schaute er auf die Kaviarflecken auf Ulriks Weste. Dann machte er kehrt und ging zur Tür. Pt folgte ihm schweigend. Alle Blicke waren auf die Aktentasche in Greens Hand gerichtet.
»Übrigens, mein Vater wollte doch heute eigentlich sein Testament ändern?« rief Tatjana hinter ihm her.
Flemming Green blieb einen Moment lang mit dem Rücken zu ihnen stehen. Nanna betrachtete seinen dunklen Nacken. Ihr Blick glitt über seinen Rücken. Zwei seiner Finger lösten sich vom Griff der Aktentasche, und er drehte den Kopf ein wenig.
»Gerade deshalb ist es paradox ...« Die zwei Finger legten sich wieder um den Griff. Eine fast unmerkliche Bewegung. Demonstration seiner Fähigkeit und Kraft. Wie ein Staatsanwalt, der die Wahrheit ans Licht bringt. Sei es eine existierende oder eine von ihm erfundene.
Die Bewegung der Anwaltfinger wirkte wie eine eisige Dusche, und mit einem Schlag war Nanna nüchtern. Fühlte sich mitten auf die Bühne gestoßen, die schützende Membran war zerrissen. Sie hatte bereits Sätze ihrer Rolle gesprochen und stand zwischen ihren Mitspielern.
Lisa legte das Gesicht in Falten, ein liebenswürdiges Lächeln, wie mit Nadeln festgesteckt. Camilla neigte den Kopf. Tatjana wie immer aufgelöst. Pt kalt wie ein Stück Metall. Ulriks Augen flackerten fieberhaft, und Alex’ Augen starrten auf dieselbe Stelle wie Nanna. Auf die Finger des Anwalts.
»Ich möchte gerne den Totenschein sehen. Umgehend.«
Dieser Forderung des Anwalts folgte ein Klicken der Tür und eine kurze Stille.
»Was zum Teufel bildet er sich eigentlich ein? Für wen hält er sich denn?« rief Alex. »Hoffentlich holt er nicht die Polizei!« »Es war deine Idee. Du hast uns das eingebrockt«, fauchte Ulrik. »Was machen wir jetzt?«
Nur wenige Meter entfernt lag ein Mann unter einer geglätteten Bettdecke, ermordet mit einem Skalpell. Aber das Wirkliche vermischte sich mit dem Unwirklichen. Nanna mußte sich beherrschen, um nicht ins Schlafzimmer zu gehen, die Decke wegzuziehen und sich von der Realität des Mordes zu vergewissern.
Links von ihr stand Lisa mit dem gleichen Lächeln, unbeeindruckt. Ihre Augen flogen von Gegenstand zu Gegenstand, als sei sie zum erstenmal in dem Erkerzimmer, und sie hauchte: »Immer mit der Ruhe. Dieser Anblick lähmt sogar die Denkfähigkeit eines Staranwaltes.«
»Er glaubt wohl, daß ihm das alles gehört. So sind sie alle«, sagte Camilla, und an Ulrik gewandt: »Woher hast du das mit der Krematoriumsversicherung?«
»Das habe ich nicht erfunden. Das ist wahr«, erwiderte Ulrik. Er fuhr fort, als sei Reden ein rettender Anker. Egal was gesagt wurde. »Als Ältester habe ich ...«
»Bloß keine Häuptlingsgefühle«, unterbrach ihn Alex.
»Als Ältester weiß ich um Dinge, die weiter zurückliegen«, sagte Ulrik unbeirrt. »Vater stammt aus einem armen Dorf in Westjütland. Dort wurden viele Kinder geboren. Überlebten sie, war das eine finanzielle Belastung. Aber auch wenn sie starben, mußten sie begraben werden. Und das kostete einiges.«
Nanna drehte sich um, hatte plötzlich das Bedürfnis, irgend etwas zu berühren. Ihre Hand glitt über die Porzellanfiguren, über das Glatte, über das Rauhe. Warum war sie noch hier, warum fuhr sie nicht nach Hause?
»So arm kann man unmöglich sein«, sagte Lisa gleichgültig.
»Besonders, wenn viele begraben werden mußten«, fuhr Ulrik fort. »Die Sterberate war hoch. Einige Versicherungsagenten erkannten die Situation. Geschäfte lassen sich auf viele Arten machen, na ja ...«
Er räusperte sich.
»So sind wir schließlich alle. Ein Teil der Kinder wuchs trotz allem auf. Früher oder später starben sie natürlich, einige auf dem Meer. Die Versicherung war ein Taufgeschenk. So kam Vater dazu. Durch seine Patin.«
»Wie vulgär«, sagte Camilla.
Die Standuhr schlug die Viertelstunde, der Arzt war immer noch nicht gekommen, und Nanna drehte sich zu dem in ohnmächtiger Nervosität redenden Ulrik um.
»Das war sicher gut gemeint. Taufgeschenke sind ja häufig für die Eltern. Aber das ist lange her. Na ja ... achtundachtzig Jahre. Vor einem Monat, im Mai. Am 7. Mai 1906 wurde er geboren.«
»Dein Großvater war doch nicht arm.« Lisas Protest klang scharf. »Er hatte eine Garnelenfabrik.«
»Nicht bei der Geburt von Vater. Erst später.«
Tatjana war sofort zur Stelle: »Für Lisa ist es sehr, sehr wichtig, mit der dritten Generation einer Familiendynastie verheiratet zu sein. Das ist nur möglich, wenn man die Garnelen hinzurechnet. Aber wo ist diese Versicherung?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Ulrik.
Alle schauten Pt an. Sie antwortete ruhig: »Ich weiß es auch nicht.«
»Dann verbrennen wir ihn einfach«, sagte Alex. »Wir scheißen auf die Police. Den Rechtsanwalt soll der Teufel holen. Das Begräbnis geht ihn gar nichts an.«
»Jetzt müssen wir mit unserem Urlaub in Monte Carlo warten, bis alles geregelt ist«, sagte Lisa verärgert. »Und dabei habe ich mich so gefreut. Und die wunderschöne Wohnung, die jetzt leersteht.«
»Soll doch Nanna hinfahren.« Ulriks Blick suchte die Uhr und bewegte sich von dort zu Nanna.
»Du mußt dringend einen reichen Liebhaber finden, nachdem dein ›Bilderverkäufer‹, den du nie hier in Hvidager vorgezeigt hast, nach Spanien abgedampft ist.«
Nanna antwortete nicht. Es gab Winkel in ihrem Leben, die nichts mit Hvidager zu tun hatten, und in den dreizehn Jahren, die sie und Oliver zusammengelebt hatten, hatte er Hvidager nie betreten. Die fehlende Heiratsurkunde war das sicherste, wenn auch ein vorgetäuschtes Alibi gewesen, daß jeder seine eigene Wohnung behielt. Sie das Reihenhaus, er die nette kleine Wohnung über der Galerie, spezialisiert auf Andy Warhol und Vasarely.
Oliver wurde nie in dieses Haus gezogen, war nie davon verschlungen worden. Auf einmal wurde noch deutlicher, wie wichtig die geheimen Winkel waren.
Doch mit Stiefvaters Abneigung gegen alles außerhalb seiner Reichweite und mit seiner besonderen Fähigkeit, Ansteckung zu verbreiten, war der Ausdruck ›Bilderverkäufer‹ erfunden worden und hängengeblieben.
Ein einziges Mal hatte sie protestiert: »Galeriebesitzer heißt das«, aber umsonst, denn in der Familie setzten sich Boshaftigkeiten fest, wenn sie nur boshaft genug waren. Oliver blieb der ›Bilderverkäufer‹ mit dem ätzenden Unterton des Hausierers.
Irgend etwas um Nanna fing zu sprießen an, wie eine schnell wachsende Pflanze, oder vielleicht wie etwas schon vor Jahren Gesätes. Unbewußt schaute sie hinunter auf das Parkett. »Ja gewiß«, sagte Lisa froh. »Es wird dir dort gefallen. Direkt am Fuße des Fürstenpalastes. Als wir die Wohnung vor zwei Jahren kauften, da ...«
»Als Vater sie kaufte«, unterbrach Alex. »Die Wohnung gehört zum Vermögen ... wie eigentlich alles, was wir Kinder haben. Alles nur geliehen. Deshalb keine Ausbildung. Die hätte er nämlich nicht behalten können. Keine Reisen. Die hätten ja nicht als Aktivposten in seiner Buchhaltung erscheinen können. Alles gehörte Vater. Die Firmenautos. Die Firmenhäuser. Die Stühle, auf denen wir sitzen. Die Tische, von denen wir essen. Die Betten, in denen wir schlafen. Alles registriert. Firmensilber. Firmenpelze. Firmen...« Alex griff an Lisas Hals.
»... Perlen.«
»Finger weg!« Lisa schlug seine Hand fort. »Ehrlich gesagt ...«
Ulrik wischte sich den Schweiß vom Gesicht, als sei eine Grenze erreicht.
»Aber jetzt gehört es uns«, sagte Lisa und legte eine beruhigende Hand auf Ulriks Arm.
»Eigentlich schön«, sagte Camilla mit einem versonnenen Blick auf die Goldkette, die Nanna von Stiefvater zum Abitur bekommen hatte.
Ulrik lief um die