Das Haus des Vaters. Helle Stangerup

Das Haus des Vaters - Helle Stangerup


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      Pt wischte unsichtbaren Staub von einem Sofakissen mit Gobelinbezug und sagte über die Schulter: »Lisa, bist du nicht früher einmal Krankenschwester gewesen?«

      »Was?« sagte Lisa und griff nach ihren Perlen, überrascht, weil Pt seit zwanzig Jahren die erste Frage gestellt hatte.

      »Das ist ja hochinteressant.« Tatjana strahlte vor Begeisterung. »Da weiß man, wie man zustechen muß.«

      »Was zum Teufel bildest du dir ein«, rief Ulrik.

      Tatjana machte eine weite, unbestimmte Handbewegung.

      »Gab es nicht einmal einen Film, der so ähnlich hieß wie ›Der Mörder ist unter uns‹?«

      »In dem Film waren sie alle schuldig«, sagte Nanna. »Sie hatten den Mord gemeinsam begangen.«

      Ulrik und Alex schauten sie schweigend an. Sie selbst sah Green vor sich, im Gerichtssaal. Seine Finger, die sich wie eine Garrotte um ihre Hälse legten, mit seiner triumphierenden Version der Wahrheit.

      Es klingelte.

      »Dr. Hvidt«, sagte Alex und stürzte zur Tür.

      »Gott sei Dank«, flüsterte Ulrik und umklammerte eine Stuhllehne.

      Lisa hatte mit einer raschen Bewegung einen roten Staffordshire-Hund umgedreht und studierte den Stempel.

      Die acht schwarzen Eisenbuchstaben Hvidagers prangten über der Eingangstür, bombastisch und vermutlich doppelt so groß wie das ursprüngliche Strandly, um zu garantieren, daß dessen Spuren am Mauerwerk für immer getilgt waren. Doch Hvidager hatte sich bereits verändert. Über dem Anwesen lag eine Spannung, wie vom Kampf der Ereignisse um Loslösung und Freiheit. Aber Stiefvaters Geist nagelte sie fest, an Stein, Mörtel, Gebälk und Ziegel.

      Nanna steckte den Autoschlüssel ins Zündschloß, zögerte, fragte sich, ob sie in der Lage war zu fahren, und spähte zur Eingangstür.

      Sie hatte Dr. Hvidt nicht gesehen, als er eintraf, Alex hatte ihn direkt ins Schlafzimmer geführt. Und Ulrik beschloß plötzlich, daß man aufbrechen sollte, und fuhr mit Lisa und Camilla und der auf dem Rücksitz protestierenden Tatjana davon. Das Gesicht über dem Lenkrad des schwarzen BMW war aschfahl, als er Hvidager hinter sich ließ. Pt blieb zurück und ging in die Küche.

      Hoch oben trieben Regenwolken von Westen nach Osten und hinaus auf den Sund.

      In all den Jahren hatte Nanna nie Wolken über Hvidager gesehen. Seltsam, wie weit eine Sperre reichen konnte. Und wie plötzlich sie verschwunden war. Aber gleichzeitig begann etwas anderes, sie einzuschließen. Sie hätte am liebsten um sich geschlagen.

      Es lag lange zurück, ihr Abitur und dieser feuchte Juni und das Haus mit dem weißen Dach und dem im Gebüsch wartenden Tod. Auch damals parkte das Auto eines Arztes vor der Tür. Ein grüner Saab.

      In einem Jahr machte Nikolai das Abitur. Heute schrieb er die Abschlußarbeit in Deutsch, ohne daß Nanna gespannt war. Die Zahl der von ihm erreichten Punkte war meistens zweistellig.

      Vor einem Monat stand der Flur voller Plastiktüten. Die blonde, lebhafte Line zog ohne weiteres in Nikolais drei mal drei Meter großes Zimmer ein, weil ihre Mutter ein gräßliches Weib war. »Das bist du nicht«, sagte Nikolai mit einem breiten Grinsen und einem zerknautschten Blumenstrauß vom Supermarkt in der Hand. Line war ruhig und freundlich. Vielleicht traf es zu, daß ihre Mutter gräßlich war.

      Nikolai hatte keinerlei Verbindung zu Hvidager, außer daß die Ehe seiner Eltern dort begonnen und geendet hatte.

      Stiefvaters Kampf, Nanna zu bewegen, das Kind abzutreiben, dauerte nur kurz. Eine Christbaumniederlage genügte ihm offenbar. »Du kannst doch unmöglich von einem Amerikaner, der Charles heißt und Kierkegaard studiert, ein Kind bekommen.« Stiefvaters Entsetzen und das letzte Argument: Abscheu.

      »Charlie«, hatte Nanna korrigiert und machte damit alles noch schlimmer. Charlie wurde an einen Ort zwischen Meer und Religiösem verdammt. Stiefvater nannte ihn immer nur Herr Morton.

      Nanna mußte weit zurückdenken, um sich ein wenig an Charlie zu erinnern. Er war sehr ernst und sehr musikalisch gewesen. Nächte mit Beethoven am Plattenspieler hatten ihn für sie zum Helden gemacht. Das fünfte Klavierkonzert in einem Zimmer im Studentenheim mit lärmempfindlichen Nachbarn.

      Am nächsten Quartalsabend wurde Charlie die Ehe nahegelegt, ein verwirrter Bräutigam, weil er soviel von der freien skandinavischen Frau gehört hatte. »Und es sollte in einer Methodistenkirche sein«, lautete Stiefvaters endgültiger Bescheid. Tiefer konnte Stiefvater nicht sinken.

      Charlie hatte dunkles, glattes Haar gehabt, hatte eine Brille getragen und mit unbekümmertem, selbstverständlichem Genuß Kaviar gegessen. Letzteres weckte sämtliche Instinkte in Stiefvater.

      Als der Bruch kam, als Charlie zurückwollte in die Staaten, weg von Babygeschrei und stinkenden Windeln, hatte Stiefvater längst herausgekriegt, daß sich hinter dem jungen Philosophiestudenten irgendwo in Kansas City ein beachtliches Unternehmen verbarg, errichtet auf der Herstellung von Hühnerfutter. Aber auch, daß das Familienvermögen bis zum letzten Dollar in einem Fonds festgelegt war.

      Der neunte und letzte Quartalsabend der Ehe. Charlies nette, unglückliche Eltern waren gekommen, und beim Kaffee bewunderten sie Pts Erkerzimmer: »So bezaubernd europäisch.« Lisa wurde schwindlig. Das übrige fand hinter geschlossenen Türen statt, wo diskret eingeschleuste Rechtsanwälte es versäumten, sich darüber zu äußern, daß die neu gewonnene Freiheit der dänischen Frau auch die Pflicht zur Versorgung ihres Kindes einschloß.

      Sie hatte Nikolai nie erzählt, daß die Raten für das Reihenhaus von einem Hühnerfutterfonds in Kansas City bezahlt wurden. Und das Geld für die Privatschule. Und daß Verlage keine monatlichen Schecks ausstellten. Hatte nie über die Kluft gesprochen zwischen öffentlicher Beachtung und finanzieller Realität.

      Nikolai würde sicher nur grinsen. Nanna hatte sich nie vor Nikolais Reaktion gefürchtet, jedoch vor seinen Freunden und deren auf Erfolg fixierten Eltern. Nikolai nahm die Dinge leicht. Daß er nichts von seinem Vater hörte, betrachtete er als eine Tatsache, mit der er aufgewachsen war wie auch Nanna einmal. Offenbar interessierte ihn das nicht weiter. Doch Nikolai hatte immerhin einen Vater und wußte seinen Namen. In seinem Taufschein stand nicht das Wort »Unbekannt«. Andernfalls hätte Nanna das Gefühl gehabt, daß etwas nicht in Ordnung war.

      Charlies Nachnamen behielt sie. Hauptsächlich, um den Familiennamen ihrer Mutter loszusein und damit jede Verbindung zu den Menschen, die sie hatten abschaffen wollen. So hatte sie sie abgeschafft. Außerdem bedeutete der Name einen Hinweis auf Nikolais eheliche Geburt, auch wenn sich seit ihrer Geburt die Begriffe radikal geändert hatten. Jedenfalls war das Wort »Unbekannt« damit vom Tisch. Das hatte mit etwas zu tun, was Nanna nie vergaß, Bemerkungen auf einem Schulhof, die an ihr festsaßen wie kalte Angelhaken.

      Hvidagers Haustür öffnete sich, und ein blonder Mann trat heraus. Er hatte ein hageres Gesicht und schütteres Haar. Direkt hinter ihm kam Alex, der ihm mehrmals freundschaftlich auf die Schulter klopfte. Alex lächelte großzügig. Der blonde Mann versuchte sich ihm zu entziehen. Er drehte sich um und ging langsam die Haupttreppe hinunter.

      Bei dem grünen Saab stellte er die Arzttasche ab und beugte sich nach vorne, als sei er zu erschöpft, einzusteigen. Hvidagers Haustür schloß sich im Bewußtsein des Sieges, und eine Woge der Angst verebbte in Nanna.

      Nanna stieg aus und ging in dem kalten Wind auf den Arzt zu, hatte das Bedürfnis, sich zu bedanken. Aber er schien sie gar nicht zu bemerken.

      »Guten Tag«, sagte sie und stand so nahe neben ihm, daß sie den Duft seines After-shave wahrnahm.

      »Guten Tag«, wiederholte sie. »Ich bin Nanna Morton.«

      Er drehte langsam den Kopf, schaute sie an, sagte aber nichts. Das Gesicht war wie versteinert. Obwohl man sehen konnte, daß er gerne lachte. Er hatte graue, runde Augen, die an ihr vorbeiblickten.

      »Ich war heute nacht hier«, sagte sie.

      Jetzt schaute er sie an.


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