Das Haus des Vaters. Helle Stangerup

Das Haus des Vaters - Helle Stangerup


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des Saab auf, und vor der Steintreppe Hvidagers blieb eine dunkle Spur zurück. Im Nu war er verschwunden.

      Das war also der letzte Quartalsabend. Nanna hatte nie geglaubt, daß dieses Zerhacken des Jahres in vier große Teile jemals aufhören würde.

      All die Abende in dem großen, weißen Haus erschienen in einer langen Reihe vor ihren Augen, glichen sich in Form und Oberfläche, aber jeder dieser Abende hatte ihr Aufschluß verschafft, durch ein Thema, einen Satz, eine Neuigkeit.

      Jener Quartalsabend im September vor dem Tod von Nannas Mutter, als Stiefvater gerade den Zeitungsverlag gekauft hatte. Die Quartalsabende, an denen Alex mit einer neuen Frau erschien. Oder Tatjana mit einem neuen Mann. Als die Ikonen aufgehängt wurden. Als die Münzsammlung vorgezeigt wurde und beim Kaffee von Hand zu Hand ging. Dezember fünfundsiebzig, mit dem Ostwindsturm, der um die Hausecken pfiff, während Stiefvater mit dem Cognacschwenker in der Hand und wie nebenbei mitteilte, daß er durch geheime Aktienkäufe jetzt Eigentümer des Unicorn-Verlages war. Das Flüstern über fallende Immobilienpreise an den Quartalsabenden Ende der achtziger Jahre. Der große Lagerbrand im Winter zweiundneunzig. Und vorher: »Donnerwetter, der Alte hat doch tatsächlich die Bank auf den Fidschi-Inseln gekauft.« Es war Ulrik, der es an jenem Juniabend im Jahre neunzig zischelte.

      All die Abende krochen auf sie zu. Näher als je zuvor, wie anmaßende, nicht geladene Gäste. Sie schauderte, ohne zu wissen, warum, ging zu ihrem Auto und fuhr los.

      Der Motor klang dumpf, vielleicht brauchte er Öl, und sie mußte langsam fahren. Sie fuhr langsam an den Eseln und den Hunden und den zwei Säulen mit den weißen Lampen vorbei, die die Grenze bildeten zur Wirklichkeit.

      »Schreib ein Buch«, hatte Stiefvater seinerzeit gesagt. »Du hast die besten Schulaufsätze geschrieben und immer gern Geschichten erzählt ... mein bester Lektor ... Ich will, daß du vorankommst, deinen eigenen Weg gehst ...« Jetzt erschienen ihr diese Worte plötzlich in einem anderen Licht. Als hätten sie eine andere Bedeutung, ohne daß sie recht wußte, welche.

      Morgen die Verabredung mit dem Lektor, der unter seinem Schnäuzer vorwurfsvolle Seufzer von sich geben würde, daß sich Novellensammlungen nicht verkauften. »Schreib den großen Roman.« Das hatte er seit sechzehn Jahren gesagt. In der linken Ecke des kleinen Büros zur Straße stand ein Gummibaum.

      Der Baum stand seit fast fünfzehn Jahren dort, seit sie ihre ersten kleinen Geschichten ablieferte, aber größer war er deshalb nicht geworden. Vielleicht aus Mangel an Licht oder aus Mangel an allem. Nanna würde antworten, daß sie nicht länger schreiben könne, weil sie so ungeduldig sei. Auch das hatte sie seit fast fünfzehn Jahren gesagt.

      Die Einleitung dauerte jedesmal zwanzig Minuten, angefangen bei der Doppelrolle der Frau und dem Preis der Emanzipation und den Voraussetzungen für Kinderlosigkeit, mit Abstecher zu Blixens Verwendung einer Haushaltshilfe und Lagerlöfs Empfang in ihrem Heimatdorf nach dem Nobelpreis. Wieder in die niedrigen Gefilde des Alltags, mit Wasser im Keller und dem schrottreifen Auto, bis sie endlich zur Sache kamen: das Durchgehen des Manuskriptes.

      Der gehobene Zeigefinger. Klinisch. Analysierend. Wo der Text zu unklar wurde. Wo die Geschichte Brüche aufwies. Wo der Auftrieb fehlte. Ein Funke. Eine besondere Tiefe. Ein Schmerz. All das im Manuskript an den Rand geschrieben, behutsam mit Bleistift, den man jederzeit ausradieren konnte. Trotz allem der Respekt vor dem Kreativen. Sie machte sich Notizen. Der Gummibaum stand in der Ecke, ließ die wenigen dicken Blätter hängen.

      Damals, vor fast fünfzehn Jahren, war der Schnäuzer vermutlich noch schwarz gewesen. Letztes Mal war er weiß. Schließlich die Novelle, die wie immer abgelegt war mit der aufgeklebten Expertise: »Hier liegt Stoff für den großen Roman.« Die letzten drei Wörter mit großen Buchstaben: »Der Große Roman.« D. G. R. nannte sie ihn. Sie konnte die Wörter auswendig. Dem Markt fehlen Romane. Er gab nie auf.

      Der Schotter knirschte unter den Reifen. Sie erhöhte die Geschwindigkeit, der Motor stotterte, und sie überlegte, ob sie in der Wärme arbeiten konnte, in dem grellen, südfranzösischen Licht. Ob die Sonne ihre Konzentration verbrennen und ihre Gedanken schweifen lassen würde, in die spanische Hitze und zu Oliver, der eine Ungehörigkeit zuviel gesagt hatte.

      Auf die dreizehn Jahre mit getrennten Wohnungen folgte das halbe Jahr mit Adressen in verschiedenen Ländern und lediglich gemeinsamen Ferien und die Fiac-Messe in Paris, weil sie sich weigerte, Nicolai während der Schulzeit alleinzulassen. Gut ein halbes Jahr, in dem sie einundzwanzig Prozent von Olivers Leben teilte, die Tage und Nächte im nachhinein zusammengerechnet.

      Es blieben die Briefe. Und die Sehnsucht nach dem Leben, das sie nicht teilten. Vom Erleben des Vogelfluges über die Alhambra, vom Traumbild kleiner Pferde mit karmesinroten Sätteln, von der Hoffnung, gemeinsam den Winternebel über die Klippe von Gibraltar treiben zu sehen. Die verbleibenden neunundsiebzig Prozent wurden zu einem Zusammenleben per Post.

      Sie waren sich eines Tages im Oktober bei einer Vernissage begegnet, gerieten in Streit über Jorn als Keramiker, über Freddie als Pornograf, sie stritten über alles, und sie verknallte sich in seine freche Art, trotz all der von ihm gesagten Ungehörigkeiten. Vielleicht, weil er in diesem Punkt sogar Hvidager übertraf und weil sie selbst in Übung war.

      Sie trennten sich endgültig in einer überheizten Bar bei einem Streit über Nikolai und den Wohnsitz in einer Steueroase, darüber, daß »der Junge doch in eine spanische Schule gehen kann, das schadet ihm doch nicht«. Der Streit, überhaupt Kinder zu haben. »Kleine Kinder, kleine Probleme – große Kinder, große Probleme.« Kinder bedeuten Probleme. Probleme bedeuten Zerstörung sämtlicher Freuden. Das Ganze bekam Übergewicht, als die ultimative Wahrheit gesagt werden mußte: »Der Kerl ist ein Hindernis gewesen, eine Belastung von Anfang an.«

      Das war die Ungehörigkeit, mit der Oliver nicht gut abschnitt. Verliebe dich nicht in einen Mann mit poetischer Neigung. Verliebe dich nicht in einen Mann mit Problemphobie. Liebe keinen Mann, der dein Kind als eine Belastung empfindet.

      Diese eine Ungehörigkeit zuviel ersparte es ihr, die vielen Tasten zu drücken, um die Stimme aus Sevilla zu hören und von dem schrecklichen Ereignis der Nacht zu erzählen. Es wurde ihr erspart, es überhaupt jemandem zu erzählen. Sie hatte keine Verwandten, und den ›Bilderverkäufer‹ hatte sie auch nicht mehr.

      Auf einmal wieder das Gefühl, eingesperrt zu sein. Sie mußte weg, weit weg von allem, wie ein Flüchtling, der nur lief, ohne eine Richtung. Sie konnte nirgendwohin fliehen, ihr blieb nur Monaco.

      Nikolai würde sie auch für verrückt erklären, wenn sie nicht auf der Stelle nach Monte Carlo flog. Und es zog sie nach dem kalten und verregneten Frühsommer in die Wärme, wo sie vielleicht das Geschehene vergessen konnte, wo vielleicht die Sonne die Erinnerung an ein Skalpell in ihrem Bewußtsein verblassen ließ. Und billige Ferien, ihre finanzielle Situation erlaubte keine großen Sprünge, trotz des Kansasfonds. Da fiel Nanna ein, daß sie Nikolai von dessen Existenz erzählen sollte.

      Er war siebzehn. Es war höchste Zeit. Erst als Line auftauchte, wurde ihr klar, wie weit weg die Ameisen, die Käfer und die Playmobilmännchen waren. Und früher oder später würde Nikolai ohnehin merken, wie wenig die Schreiberei abwarf. Trotz der Arbeit fürs Fernsehen. Trotz aktueller Rezensionen, trotz des dreijährigen Arbeitsstipendiums vom Kunstfonds, der es ihr ermöglicht hatte, »Winterregen« zu schreiben, womit sie beinahe einen der Preise des Jahres bekommen hätte.

      Zum Glück war Nikolai Mathematiker, das mußte er von Charlie haben, und Dänisch war sein schwächstes Fach. Nikolai sollte sich um alles in der Welt einen anderen Broterwerb suchen. Das Hühnerfutter trug schon seinen Teil dazu bei.

      Was kostete wohl ein Billigflug nach Nizza und zurück, und würde sie kurzfristig einen bekommen? Der Motor hörte nicht auf zu stottern. Nanna hatte längst Strandvejen, die Hauptstraße, erreicht. Sie mußte eine Tankstelle finden und Öl nachfüllen lassen, aber hier schien keine zu sein. Sie bog beim Hotel Marina zum Supermarkt ab, konnte gleich einige Einkäufe machen.

      Da sah sie den dunkelblauen Mercedes. Er hielt an der Ecke. Nanna erkannte den Fahrer wieder. Rechtsanwalt Flemming Green saß leicht vorgebeugt hinterm Steuer und telefonierte. Er schaute auf einige Papiere vor sich. Auf dem Sitz


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