Iss dich klug!. Manuela Macedonia

Iss dich klug! - Manuela Macedonia


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jede Menge psychische Krankheiten auf: asoziale Persönlichkeitszüge31, Suchtanfälligkeit32, Schizophrenie33 (Persönlichkeitsspaltung) und Depression34. Sie sind bedeutend mehr betroffen, als Menschen, deren Mütter nicht hungerten. Diverse Studien führen diese psychiatrischen Erkrankungen auf einen Mangel an gesättigten Fettsäuren 35 zurück, die man in Nüssen, Leinöl und Fischen aus kalten Gewässern vorfindet, aber auch auf Eisenmangel36.

      Im Meisterplan der fetalen Entwicklung reichen auch noch so verschwindend geringe Mengen an Substanzen, die eine Schwangere über das Essen aufnimmt, um Gene zu aktivieren. Auch der Mangel an solchen Substanzen kann sich epigenetisch auswirken und psychische Erkrankungen auslösen. Die Hongernot-Studien zeigten zudem, dass das Gehirn der Betroffenen frühzeitig altert37. Das sind die Folgen, wenn weniger Nährstoffe über die Blutbahn die Neurone erreichen. Gewisse Regionen im Gehirn dieser Menschen weisen auch eine geringere Blutzufuhr auf, als bei Gleichaltrigen, deren Mütter keinen Nahrungsmangel hatten34. Eine optimale Blutversorgung im Erwachsenenalter ist nur möglich, wenn sich im Fötus die Blutgefäße ausreichend bilden. Sind Bausteine aus der mütterlichen Ernährung nicht vorhanden, wird auch im Gehirn des ungeborenen Kindes an Baumaterial gespart. Die verheerenden Auswirkungen auf die Dimension des Gehirns38, auf die kognitiven Fähigkeiten und die Psyche sind nicht nur in den Studien zur holländischen Hungersnot belegt, sondern auch in Ländern, die Ähnliches erleben mussten, u. a. in der Ukraine (1932–33) und in China (1959–61)39. Selbstverständlich werden die Gene psychischer Krankheiten wie Depression an die folgenden Generationen weitergegeben40, so auch an die Enkelkinder der Hongernot.

      Wir Europäer des zwanzigsten Jahrhunderts haben unsere Wurzeln in Menschen, die Kriege erlebt haben. Ich frage mich, ob Oma Irene wohl genug zu essen bekommen hat, als sie 1930 mit meiner Mutter schwanger war. In den Jahren, als sie ihre vier Kinder zur Welt brachte, also meine Mutter und ihre Geschwister, hatte sie genug zu essen. Meine Großeltern waren Tabakbauern in der Provinz Vicenza, unweit von Venedig. Sie verkauften die Ernte an den Staat. Auf ihren Feldern wuchsen Mais, Weizen und alles, was sie als Selbstversorger brauchten. Einige wenige Schweine und eine Kuh hielten sie, manchmal zwei Ziegen, auch Hühner und Kaninchen. Meine Mutter erzählte, dass das Haus in den Hügeln lag. Vor dem Haus war eine Quelle, die sich in einem kleinen Becken sammelte, bevor sie zum Bach wurde und drei Getreidemühlen speiste. Im klaren Quellwasser lebten Flusskrebse. Mamma und ihre Geschwister hoben die Steine, unter denen sich die Krustentiere versteckten, und stachen mit einer Gabel auf sie ein. Nonna Irene schälte und wälzte den Fang in Mehl, warf ihn in heißes Pflanzenöl und mit Polenta als Beilage – also Maisbrei, dem Grundnahrungsmittel der Norditaliener – aß die sechsköpfige Familie zu Mittag.

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      Was hat der zweite Weltkrieg mit uns gemacht? Wie hat er sich auf die Generation der Eltern ausgewirkt und auf die Föten, die vielleicht nur eine halbe Scheibe Brot am Tag zur Verfügung hatten, um zu wachsen und das Licht der auch noch hungernden Welt zu erblicken? Wie war es in jenen Tagen, als die Care-Pakete der Amerikaner den schlimmsten Hunger beseitigten? Die meisten von uns können es schwer nachvollziehen, denn wir haben bisher keinen Mangel an Lebensmitteln erlebt. Vielleicht waren unsere Eltern ein bisschen streng mit der Menge Nutella, die aufs Brot durfte, auch deswegen, weil sie damals in kleinen, sauteuren Gläsern verkauft wurde. Aber wir sind immer satt vom Esstisch aufgestanden. Welches Glück, in einer Gesellschaft und einer Zeit aufzuwachsen, die sich alles bequem im Supermarkt holen kann!

      Wie Currywurst und Pommes im Mutterleib schmecken

      Italienerinnen der Generation meiner Mutter – also in den 1930er- Jahren geboren – kochten sehr unterschiedlich. Eine unsichtbare kulinarische Grenze verlief unterhalb der Po-Ebene. Nördlich davon verwendeten die Köchinnen Butter, ausschließlich raffiniertes Olivenöl, weil milder im Geschmack, Eiernudeln, Reis, Parmesan und auch Schweinefleisch. Südlich dieser Grenze war nur kaltgepresstes Olivenöl als Fett im Einsatz. Hartweizennudeln bildeten die Ernährungsgrundlage, dazu Pecorino als Reibkäse und meistens Rindfleisch. Das Hauptnahrungsmittel der Po-Ebene war bis zur Industrialisierung der Landwirtschaft Polenta, also ein Brei aus Maisgrieß. So nennt man die Bewohner dieses Teils Italiens die Polentoni, also Polentafresser. Und so wurde auch ich im Mutterleib gefüttert, als Polentona.

      Der Fötus ist eine unglaublich ausgeklügelte Baustelle: Tag für Tag wächst und funktioniert sie sofort. So ist auch das Nervensystem bereits ab der achten Schwangerschaftswoche rudimentär aktiv. Das sieht man an den Spontanbewegungen des Ungeborenen, an den ersten Reflexen (Greifreflexen), die vierzehn Tage später auftreten und gut im Ultraschall zu beobachten sind. In der Fruchtblase ereignet sich aber allerlei, das man von außen nicht sieht: Etwa beginnt der Fötus im fünften Monat zu hören41! Spielt man ihm ein Geräusch vor, reagiert er mit beschleunigter Herzfrequenz und Bewegungen. Geschieht es des Öfteren, reagiert er nicht mehr mit der gleichen Intensität, weil er das Geräusch »kennt«. Somit lernt er seine Umgebung zuerst akustisch kennen: die Stimme der Mama, die vom Papa, der Geschwister, vom Hund, den Lärm der Müllabfuhr in der Nacht. All das geht durch das Fruchtwasser durch und wird zur gewohnten Geräuschkulisse, die sich im Lauf der Monate zum beruhigenden Herzschlag der Mutter gesellt. Deswegen schlafen Babys ja so gut, selbst wenn alles um sie herum laut ist.

      Die erste Schule des Lebens ist der Mutterleib. Im Gehirn des Fötus vernetzen sich Neurone. Sie sind eine besondere Art Zellen. Sobald sie stimuliert werden, wachsen ihre Fortsätze, die Dendriten und das Axon. Die Dendriten, mit denen die Zelle aus anderen Zellen Information empfängt – sozusagen ihre »Antennen« – werden länger und verzweigter, gleiches gilt auch für das Axon, das »Sprachrohr« der Zelle, das Information zu anderen Zellen überträgt. Lernen geschieht, wenn Information aus der Außenwelt das kindliche Gehirn erreicht und die Neurone sich vernetzen.

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       Neuron

      Hört der Fötus im Mutterleib die Stimme seiner Mama, verlängern sich diese Fortsätze in der Hörrinde. Das ist jener Bereich der Gehirnoberfläche über den Ohren, der für die Stimmverarbeitung zuständig ist. Dass Zellen untereinander kommunizieren, ist aber erst möglich, wenn auch am Axon und den Dendriten Kontaktstellen, die sogenannten Synapsen, entstehen: Nur an der Synapse kann das Signal von Zelle zu Zelle übergehen. Je öfter der Fötus eine Stimme hört, desto »stärker« werden Dendriten, Axone und Synapsen. Miteinander bilden sie ein Netzwerk, welches als einzigartiges Muster eine Stimme oder ein Geräusch im Gehirn repräsentiert. Nicht nur das: Diese Zellen, die sich zum Netzwerk für die Stimme der Mama formiert haben, kommunizieren untereinander: Man sagt dazu, sie »feuern« besonders heftig, wenn der Fötus sie hört. Mit anderen Worten sind sie nicht nur anatomisch ein Netzwerk, sondern funktionieren auch als solches. Eine einzige Zelle in der Hörrinde kann »nichts«. Sie kann erst im Verband viel, wenn sie vernetzt ist. Übrigens: Weil die Mama-Stimme so wichtig ist, wird sie besonders gut gespeichert. Durch die Knochen und insbesondere durch das Becken wird sie »verstärkt«, daher intensiver wahrgenommen und als stabiles Muster abgelegt, während Geräusche und andere Stimmen aus der Außenwelt durch das Fruchtwasser nur gedämpft ankommen. Aber auch sie bilden Netzwerke.

      Als ich das Licht der Welt erblickte, erkannte ich bereits die Stimme meiner Mamma. Die Voraussetzungen, um gut auf dieser Welt zu funktionieren, waren bei mir allerdings nicht optimal. Ausgerechnet in den letzten drei Monaten der Schwangerschaft entstehen besonders viele Dendriten, sie verästeln sich, die Axone wachsen und sie werden dicker. Diesen Vorgang nennt man »Arborisierung«. Wie nicht anders zu erwarten, bilden sich auch die Synapsen in der 34. Woche auf Hochtouren, circa 40.000 pro Sekunde. Bei einem solchen anatomischen Wachstum faltet sich die Rinde, denn sie hat im kleinen Babyschädel immer weniger Platz. Der Kopf darf sich seinerseits nicht vergrößern, denn er muss den Geburtskanal passieren. Alles ganz schön ausgeklügelt von der Evolution!

      So lernt der Fötus im Mutterleib viel mehr, als wir vermuten, zum Beispiel


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