Der Dynamitkönig Alfred Nobel. Rune Pär Olofsson
gestanden hatten. Als er den freudestrahlenden Immanuel auf dem Anlegesteg erblickte, faßte er Mutter ganz fest ums Handgelenk. Wenn das, was Vater geschrieben hatte, nicht die Wahrheit war, hatte vor allem sie es auszubaden!
Er verschwand gänzlich in der kraftvollen Umarmung seines glücklichen Vaters, wagte jedoch noch nicht, auch ihn zu umarmen. Nicht eher, als bis er in dem schönen Wagen hinter den prächtigen Pferden saß und hörte, daß beides Vater Immanuel und niemandem anderen gehörte. Nicht eher, als bis er das hübsche, einstöckige Haus – es war nicht sonderlich groß, doch verglichen mit der Hinterhofbehausung in Stockholm geradezu ein Schloß – vom Keller bis zum Dach besichtigt und Vater hatte versichern hören, es sei sein eigen und nicht einmal gemietet oder geliehen. Nicht eher, als bis er durch die lärmerfüllte Werkstatt gegangen war und die vielen Arbeiter gesehen und von dem schwedischen Werkmeister Immanuels die Bestätigung erhalten hatte, daß sein Vater der Besitzer all dieser Dinge war. Nicht eher konnte er aufatmen. Ludwig schien überhaupt nicht mißtrauisch zu sein. Er hatte all die Jahre felsenfest Vaters Versicherungen geglaubt, es werde ihnen bald besser gehen. Für Ludwig war es selbstverständlich, daß Vater jetzt ein reicher Mann war!
Robert war nicht mitgekommen. Nach dreieinhalb Jahren Schule war er der Ansicht gewesen, er könne, was er brauche, und hatte gebettelt, zur See gehen zu dürfen. Seit einem Jahr war er Schiffsjunge auf einem Südamerikaschiff.
4
Noch immer, bald dreißig Jahre danach, gebe ich irgendwo in mir Vater die Schuld für all das Unheil, das uns in den Jahren um meine Geburt herum und auch später ereilt hatte. Das meine Mutter in ständige Unruhe vor dem morgigen Tag versetzte. Das sie zwang, jahrelang mit ihren drei minderjährigen Söhnen allein zu leben, fern von dem Gatten und dem Vater der Kinder.
Ich weiß, es ist ungerecht! Versuche doch wenigstens, einmal alles von einer anderen Warte zu sehen, Alfred Bernhard!
Und, was sehe ich dann? Zuerst etwas, vor dem ich am liebsten die Augen verschließen möchte: mein eigenes Unvermögen, Mutters Unruhe zu lindern. Wenn der arme Kleine doch wenigstens wie andere Kinder gewesen wäre! Doch ich war schwächlich. Meine Lungen ließen nicht zu, daß ich mit den anderen spielte und herumtobte. Also konnte ich nur zusehen oder mußte im Hause bleiben. Ich war nicht geschaffen, um die Nässe in unserer kleinen Wohnung oder die rauhe Kälte der langen Winter zu ertragen. »Survival on the fittest« – wenn die Welt der Menschen ebensoviel Weisheit besessen hätte, wie sie Darwin allen anderen Lebewesen zuschreibt, gäbe es mich heute nicht. Meine ganze Existenz ist eine einzige Verhöhnung der Darwinschen These! Wenn mich eine kluge und verständige Hebamme schon in der Wiege erstickt hätte, wäre meiner Mutter viel Kummer und mir das quälende Gefühl erspart geblieben, eine Last zu sein. Der Name des Gottes Ve wäre wahrhaftig passend für mich gewesen ...
Sieh an! Da hatte ich die Absicht, alles anders, mit Vaters Augen, zu sehen – und ruckzuck bin ich wieder, wo ich war, und wühle in meinem eigenen, ach so tragischen Schicksal!
Die unglücklichen Umstände hatten einen Ehemann und Vater von drei Kindern gezwungen, einsam und allein im fremden Land, fern von den Seinen zu leben. Voller Ungewißheit, ob er sie jemals würde ernähren können.
So war es auch – und vor allem so!
In reiferem Alter habe ich mir ein wenig Einblick in Vaters Leben nach dem Konkurs verschafft. Habe versucht herauszufinden, was er damals tat. Welche Projekte er im Kopf oder in den Händen hatte.
Gegen meinen Willen war ich beeindruckt von dem, was ich fand.
Mit großem Geschick und technischer Kühnheit war Vater innerhalb kürzester Zeit zu einem der ersten Baumeister Stockholms aufgerückt. Er hatte sich einen Namen gemacht, beispielsweise als er das Ronsche Haus oben in Söder umbaute, ein neues Fundament legte – ohne daß auch nur einer im Haus davon wußte, als er da sprengte und mauerte.
Dann begann das Unheil. Doch war es ja nicht Vaters Schuld, daß Knaperstad von einem gewaltsamen Brand verschlungen wurde. Oder daß seine in vieler Hinsicht genialen Erfindungen nie patentiert wurden oder in größerem Umfang erprobt werden konnten, weil das Kapital fehlte, um aus der Idee eine Industrie zu machen. Und man konnte es ja auch nicht Vater anlasten, daß der Schwimmkasten beim Brückenbau in Skurö sank oder daß die drei Schleppkähne mit Baumaterial untergingen oder daß das Petersensche Haus an der Munkbron einen so schlechten Untergrund hatte, daß Vater gezwungen war, beinahe einen ganzen Flügel mit eigenem Geld neu zu errichten.
Doch, für letzteres war Vater vielleicht verantwortlich. Aber soweit ich in Erfahrung bringen konnte, gab es in ganz Stockholm keinen Baumeister, der hätte voraussehen können, was dann geschah.
Alles richtig – so weit!
Schwieriger zu begreifen ist, daß Vater nach dem Konkurs den Beruf, den er doch wirklich beherrschte, an den Nagel hing. Mit dem Können und den Erfahrungen, die er als ›mechanicus‹ und Konstrukteur besaß, hätte es ihm doch ein Leichtes sein müssen, die Firma wiederaufzubauen. Vielleicht fand er, sein Ruf habe einen solchen Knacks bekommen, daß er an einen Neuanfang nicht zu glauben wagte. Ich weiß es nicht – Vater hat nie darüber sprechen wollen. Doch wenn er sich die Finger wirklich so verbrannt hatte, hätte er doch wohl nicht einige Jahre später den Auftrag übernommen, für Kaufmann Scharlin in Abo zu bauen. Ein prachtvolles Haus, das dem Betrachter noch immer in die Augen sticht und seine Bewunderung hervorruft.
Heute weiß ich jedoch, daß Vater nach dem Konkurs keineswegs so untätig war, wie ich als Kind angenommen hatte – und wie es vor allem andere glaubten, die keinen Einblick hatten. Vater verlegte sich auf die Chemie! Ein Gebiet, das er nie studiert hatte ...
Der Anlaß war, daß Vater mit einem Kaufmann bekannt geworden war, der gummierte Gewebe aus England importierte. Ein damals recht neues Material; die Methode war von dem Schotten Mackintosh entwickelt worden. Immanuel Nobel hatte eine Idee: Dieser wasserdichte Stoff war wie geschaffen für die Tornister der Soldaten. So würde das Gepäck bei Regen und Schnee trocken bleiben. Der Tornister konnte auch aufgeblasen werden und dann als Schwimmkissen dienen. Ja, verband man einen Tornister mit dem anderen, hatte man rasch eine Floßbrücke, ausgezeichnet verwendbar beim Überqueren von Wasserläufen.
Vater begann mit der Probeherstellung in einem engen Keller unter unserem Haus. Enthusiastisch versuchte er das Militär für seinen perfekten Tornister zu interessieren. Vergebens.
Und die Krankenhäuser? Für die Chirurgen mußten doch Apparate von Nutzen sein, die aus einem weichen und obendrein wasserdichten Material bestanden! Und auch für so manche Industrie! Vater machte einen Vorschlag nach dem anderen. ›Apparate für chirurgische, militärische und industrielle Bedürfnisse‹ lautet der Titel einer seiner Patententwürfe. Doch offensichtlich sah nur er selbst die Dringlichkeit dieser ›Bedürfnisse‹. Heute, fünfundzwanzig Jahre danach, sind viele von Vaters Ideen Teil des Alltags in Operationssälen und Werkstätten geworden – sogar in einem so zurückgebliebenen Land wie Schweden. Vater hatte das Pech, seiner Zeit voraus zu sein. Wie die meisten Erfinder.
Dennoch ließ er sich nicht unterkriegen. Er gab nicht einmal die Hoffnung auf, Interesse beim schwedischen Militär erwecken zu können. Der mit Kautschuk imprägnierte, elastische Stoff müßte doch, so meinte er, ganz ausgezeichnet für Tretminen geeignet sein!
Doch auf dem schwedischen Thron saß ein Marschall aus den Tagen Napoleons. Dieser Greis führte keine Kriege mehr, träumte auch nicht länger von Flußüberquerungen: Übrigens hatte Jean Baptiste Bernadotte den Rhein bereits einmal zuviel überquert.
Wahrscheinlich erfuhr Karl XIV. Johan niemals etwas von Immanuel Nobels ›genialer‹ Erfindung der Tretmine. Und wenn er davon Kenntnis erhalten hatte, so war er – einer der wenigen Schweden jener Zeit, die das wahre Gesicht des Krieges gesehen hatte – möglicherweise der Ansicht, die Zeit sei reif, auf solche barbarischen Schreckenswaffen zu verzichten ...
Wie es schien, blieb Vaters Idee wohl in der Patentmühle des Kommerzkollegiums stecken. Die Herren dort besaßen sicher nicht einmal genug Phantasie, um sich vorstellen zu können, wie es wäre, auf eine von Vaters Minen zu treten!
Das Kommerzkollegium,