Der Dynamitkönig Alfred Nobel. Rune Pär Olofsson
ob die Seeminen nun in die Zuständigkeit des Seefahrtsministeriums gehörten oder nicht ...
Unterdessen erwachte der Mechaniker in Vater zu neuem Leben. Und jetzt besaß er die Mittel, um eine alte Idee in die Tat umzusetzen: den Bau von Wagenrädern in Serie. Er baute eine Maschine zur Herstellung von Radnaben – und senkte damit im Handumdrehen die Kosten für ein Wagenrad um ein Zehntel. Die Maschine erregte großes Aufsehen, und Vaters Ruf als geschickter Konstrukteur verbreitete sich rasch. Es schien, als könne in Immanuel Nobels Werkstatt jedes technische Problem gelöst werden!
Leider hatte Vaters Rad auf dem zivilen Markt nicht den erwarteten Erfolg. Und so interessierte diese seine neueste Erfindung auch hauptsächlich das Militär und band unsere Firma noch fester an die Kriegsmaschinerie des Zaren.
Ich sage ›unsere‹, denn hier irgendwo wurde Vaters Betrieb zu ›Nobel & Söhne‹. Die Fabrik wurde an einen anderen Platz verlegt und erheblich erweitert. Mit den Jahren wurde es immer schwieriger zu sagen, wer die brillanteste Idee zu einer Erfindung oder technischen Verbesserung beigetragen hatte. Robert und Ludwig waren beide sehr tüchtig und einfallsreich, und auch ich hatte wohl meinen Anteil daran.
Wir alle wußten, daß der Zar mit ganzer Kraft zum Krieg rüstete. Eines Tages würde er es den Türken zeigen! Große Teile dessen, was er für das heilige Rußland hielt, waren in den Händen des heidnischen Türkenhunds. Wir wußten auch alle, daß die Firma ›Nobel & Söhne‹ einer der Ecksteine im Gebäude des russischen Kriegskolosses war. Immer kompliziertere maschinelle Konstruktionen wurden in der Firma ausgeführt: Für die Festung Kronstadt lieferten wir Dampfmaschinen, eine Dampfkammer, eine große Anzahl Drehbänke und Unmengen anderer moderner Ausrüstungsgegenstände. Wir statteten alte Segelschiffe mit Dampfmaschinen aus. Kurioserweise war ein großer Teil dieser Schiffe bei Sveaborg im Krieg gegen Schweden 1789/90 als Kriegsbeute genommen worden! Die Geschichte hat so ihre Ironien.
Darauf folgten Maschinen und die Bestückung für hundert Kanonenboote. Wir stellten die Produktion auf Kriegsbedarf um – zum Schluß vollständig. Wir beschäftigten mehr als tausend Mann, arbeiteten in drei Schichten und erhielten immer neue Aufträge, dank unserer Präzision und Pünktlichkeit. Beides waren der Zar und seine Leute bisher nicht gewohnt! Und – endlich – gingen bei der Firma auch Bestellungen über Seeminen ein. Jede für mehrere hunderttausend Rubel. Und dringend war es, dringend, dringend!
Solange es möglich war, stellte Vater schwedische und finnische Arbeitskräfte ein, zumindest für die leitenden Positionen. Die einheimischen Arbeiter nannte er Pack. Ja doch, sie waren billig und konnten für grobe Arbeiten eingesetzt werden. Und wenn die Produktion nicht vorankam – und das geschah eine Zeitlang häufig – konnte er bei seinen Freunden, den Generalen und Admiralen, Leibeigene ausleihen.
1853 brach dann alles los, später wurde es Krimkrieg genannt. Doch verlief dieser Krieg nicht so glücklich, wie der Zar erwartet hatte. Er brachte eine ganz unglaubliche Inkompetenz und Korruption bei der russischen Streitmacht an den Tag – um nicht von reinem Betrug zu sprechen. Patronen für die Gewehre erwiesen sich mit Sand statt mit Pulver gefüllt. Auch die Mehlsäcke des Trosses enthielten zuweilen Sand. Die Unterwasserminen Immanuels gelangten nicht einmal zum Kriegsschauplatz am Schwarzen Meer: Das Transportsystem brach zusammen.
Nur in der Ostsee waren die Minen dem Zaren von Nutzen. Dort versengten sie den mit den Türken alliierten Engländern so sehr den Hintern, daß diese es für das beste hielten, unverrichteterdinge abzuziehen: Kronstadt und damit die Hauptstadt blieben also vom Krieg verschont.
Ehe die ganze Herrlichkeit zusammenbrach, erlebte Vater dennoch den Höhepunkt seiner Karriere: Er wurde am russischen Hof präsentiert und durfte den großen kaiserlichen Goldorden entgegennehmen – an der Brust eines Ausländers äußerst selten.
Als sich der russische Bär wieder einmal als Potemkinsches Gebilde erwies, ließ Zar Nikolai I. eine Anzahl Köpfe rollen. Doch verlief der Krieg deshalb nicht besser. Viele der Enthaupteten waren Vaters Freunde. Ob sie schuldig waren oder nicht, ist mir nicht bekannt, fest steht jedoch, daß keine Klagen gegen ›Nobel & Söhne‹ erhoben wurden. Dennoch wirkte sich der Sturz der Minister erheblich auf die Zukunft der Firma aus: Neue Leute kamen, zu denen Vater keine Verbindung hatte. Und im Frühjahr 1855, als der Krieg schon verloren war, starb der Zar – vermutlich aus Gram, doch auch ein wenig auf Grund eines rechtzeitig aufgetretenen Schnupfens. Auf Nikolai folgte Alexander II. Er führte den nunmehr erlahmten Krieg eine Zeitlang fort. Doch nachdem Sewastopols ›uneinnehmbare‹ Festung am Schwarzen Meer gefallen war, schloß er zu Neujahr 1856 Frieden.
Der Krieg war zu Ende! Die Firma ›Nobel & Söhne‹ hatte plötzlich nichts zu tun. Der neue Zar schickte sich an, einen friedlichen Weg einzuschlagen, und bemühte sich um Reformen. Doch das Reich war ökonomisch am Ende, und für die zivile Produktion gab es keine Mittel.
Wir hätten Heizkessel, Rohrleitungen und Heizkörper sowie tausend andere nützliche Dinge liefern können, wenn irgend jemand sie sich hätte leisten können.
Vergebens erbat die Firma Kredite in London und Paris, um eine Ruhepause einlegen und die Flaute überstehen zu können.
Die Kreditgeber schüttelten die Köpfe: ›Nobel & Söhne‹ war nicht mehr kreditwürdig. Nicht, solange sie ihre Tätigkeit in dem chaotischen Rußland ausübten! Die Bereitschaft der Bankiers, uns zu helfen, wurde durch die mißliche Tatsache, daß England und Frankreich im Krieg auf Seiten der Türken gestanden hatten, vermutlich nicht gerade größer.
Ich selbst war es, der das Todesurteil über Immanuel Nobels Lebenswerk in London und Paris anhören mußte.
Man kann wohl sagen, daß alle Möglichkeiten erprobt wurden, die Vater eine Fortsetzung seiner Tätigkeit in Rußland gestattet hätten. Doch zeigte sich bald, daß er enorme Schulden auf sich geladen hatte mit all den Investitionen, die der Krieg und die Aufrüstung des Zaren erfordert hatten.
Im Sommer 1859 verließ Vater Rußland. Mit 58 Jahren stand er vor dem zweiten Konkurs seines Lebens. Zusammen mit Mutter und Emil kehrte er nach Stockholm zurück.
Zu dem Zeitpunkt hatten bereits viele der Arbeitslosen und ihre Familien St. Petersburg verlassen. Nur eine Handvoll der über tausend Angestellten blieb zurück, um mit Ludwig, Robert und mir einen Weg zu suchen, das zu retten, was zu retten war.
Wenn ich die bitteren Erfahrungen zusammenzähle und Schuld und Verantwortung gerecht zu verteilen suche, ist es leicht, so hier im Nachhinein zu sagen: Wir hätten vorsichtiger sein sollen! Hätten uns nicht so fest vor den kaiserlichen Streitwagen spannen lassen sollen! Wer so töricht ist, einen Krieg zu beginnen, ist meist auch nicht klug genug, um mit einer Niederlage zu rechnen.
Wer nicht in der dünnen Luft der kaiserlichen Höhen lebt, sollte ohnehin leichter aus der Geschichte lernen können: Nicht alle Kriege haben einen Sieger. Und vor allem, sie enden irgendwann einmal, alle – auch wenn es zuweilen lange dauert.
Wie sehr es mir auch widerspricht, so kann ich hier nicht länger ›wir‹ sagen. Und es gefallt mir auch nicht, besserwisserisch zu triumphieren: »Habe ich es nicht gesagt!« Dennoch kann ich nicht daran vorbeisehen, daß in dem Fall bei Vater alle Warnungen auf taube Ohren stießen. Immanuel Nobel sah kein Menetekel an der Wand, keine Zeichen am Himmel oder in der Tiefe. Das Netteste, was man über ihn sagen kann, ist: Er war der Freund seiner Freunde. Rußland und der Zar hatten so unendlich viel für ihn getan, also konnte er sie jetzt, da sie seine Gegendienste begehrten, nicht im Stich lassen. Wie ein guter Soldat ging er, nachdem er bereits sein Äußerstes gegeben hatte, noch einmal zum Gegenangriff über. Daß er fiel und sein Betrieb mit ihm, war gleichsam stilgerecht. Das neue Vaterland weinte ihm keine Träne nach. Die kaiserliche Goldmedaille war Dekoration genug.
Und Mutter, was hatte sie bekommen? Sie gebar Emil, der am Leben blieb, sie gebar Rolf, der mit zehn starb, sie gebar Betty, die weniger als drei Jahre leben durfte. Sie bekam sechzehn, siebzehn hektische Jahre als Ehefrau und Mutter in einem Haus, das Gäste und Mitarbeiter in ständig größrerer Zahl ein – und ausgehen sah. Zum ersten Mal in ihrer Ehe hatte sie Dienstboten. Viele. Zum ersten Mal brauchte sie weder den Pfennig umzudrehen, noch Kleidungsstücke zu wenden. Sie war die Frau eines vermögenden und berühmten Mannes